Europas Rolle in der Welt:Ich oder Wir

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Kanzlerin Merkel spricht über Populisten, schlaflose Nächte, Horst Seehofer und über das Vergnügen, an einem Tisch mit einer Staatspräsidentin und zwei weiteren Regierungschefinnen zu sitzen.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Ups, da ist ja noch etwas. Angela Merkel ist so schnell von der Bühne gestürmt, dass sie vergessen hat, das Mikrofon da oben zu lassen. Erst als sie an ihrem Tisch im Saal ist, fällt ihr das lästige Ding in der Hand auf. Sie wedelt herum, ob es ihr vielleicht einer abnehmen könnte wie sonst Blumensträuße, Geschenke oder Akten. Aber da ist keiner. So springt der Moderator ein, eilt auf sie zu und befreit sie.

Überhaupt wirkt Merkel irgendwie befreit an diesem Dienstagabend im Deutschen Historischen Museum, wo sie zu Hunderten Teilnehmern spricht. Anders als noch ein paar Stunden zuvor im Europäischen Parlament in Straßburg, wo sie bei ihrer großen Europarede auch Buhrufe hinnehmen muss, wird sie beklatscht und umjubelt. "Hier haben Sie noch Fans", merkt SZ-Chefredakteur Kurt Kister an, als er sich neben ihr auf der Bühne niederlässt. Merkel kneift die Augen zusammen und nimmt das mal so hin. Jedenfalls für den Moment.

Nun, da sie schon verkündet hat, dass sie als CDU-Chefin bald und als Kanzlerin spätestens 2021 aufhören will, geht es ja auch nicht mehr darum, ob sie Fans hat oder nicht. Sondern darum, dass man ihr zuhört bei dem, was sie allen sagen will, die nach ihr weitermachen, wo auch immer in der Gesellschaft. "Wir sind wieder in einer Phase, in der wir extrem aufmerksam sein müssen und wo wir Grundentscheidungen treffen", zerlegt Merkel den gewaltigen Umbruch, der gerade stattfindet, in kleinere Brocken. "Und die Grundentscheidung heißt: Frankreich zuerst, Deutschland zuerst, Amerika zuerst - und nur wer diese Entscheidung fällt, wird gewinnen können? Oder: Wir miteinander werden Win-Win-Situationen erzeugen?"

Islands Premier Katrín Jakobsdóttir (vorne links) neben der kroatischen Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović, gegenüber Angela Merkel. Außerdem am Tisch: Wolfgang Krach (SZ), Dang Wenshuan (Huawei), Ralph Hamers (ING), Merkels Dolmetscherin und Kurt Kister (SZ). (Foto: Stephan Rumpf)

Und, da ist sie klar, wegducken ist keine Option mehr. In dieser Auseinandersetzung müsse sich jeder positionieren: "Profitieren wir mehr vom Multilateralismus, oder sind wir nur auf der Gewinnerstraße, wenn wir allein sind?" So passiert es, dass am Dienstagabend an historischer Stelle in Berlin eine scheidende Bundeskanzlerin nach dem Hauptgang des Abendessens die entscheidende Frage für die Zukunft aufwirft: Soll jeder allein gegen jeden antreten oder alle zusammen gemeinsam?

Man denkt fast genau zwei Jahre zurück. Barack Obama ist als US-Präsident auf Abschiedstour in Berlin. Er feiert Merkel als letzte aufrechte Kämpferin für Demokratie. Redet ihr zu, dass sie noch einmal antreten muss bei der Bundestagswahl, als mächtigste Vertreterin der freien westlichen Welt und des Multilateralismus. Schon damals zeichnet sich ab, dass die multilaterale Nachkriegsordnung bröckelt. Eine knappe Mehrheit hat in Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Donald Trump hat die US-Wahl mit dem America-First-Versprechen gewonnen. Im wahlkämpfenden Frankreich ist der Sieg von Emmanuel Macron gegen die Nationalistin Marine Le Pen nicht absehbar.

Merkel wirkt irgendwie befreit an diesem Dienstagabend im Deutschen Historischen Museum, wo sie zu Hunderten Teilnehmern spricht. (Foto: Stephan Rumpf)

Merkel hat weitergemacht, dennoch hat sich die Entwicklung verschärft. Merkel redet in Berlin vom "Gift", das überall einsickert, auch in Deutschland. Das Gift sei die Frage, "lohnt sich das eigentlich, mit den anderen zusammen zu arbeiten?". Diese Vergiftung sei "voll im Gange". Man solle nicht mit dem Finger auf Italien, Ungarn oder Österreich zeigen, sondern "erst mal in Deutschland diese Auseinandersetzung führen". Auch hier seien "nicht alle 100 zu null auf der Seite" der Vereinten Nationen, etwa beim Migrationspakt, der die internationale Grundlage für sichere und in geordneten Bahnen laufende Migration schaffen soll. In der CDU werde heftig gestritten über die Frage. "Warum soll ich mit anderen noch ein Abkommen schließen, wenn ich schon so betroffen bin? Oder tue ich es nicht auch im deutschen Interesse, wenn ich sage, nur mit den anderen geht es?"

Eigentlich überrascht es nicht, dass die Kanzlerin später gesteht, dass sie durchaus schlaflose Nächte hat. Zwar findet sie die Frage "komisch", ob sie nachts, wenn sie über den Kupfergraben schaue, der an ihrer Wohnung vorbeiführt, darüber nachdenke, was sie als Bundeskanzlerin geleistet habe. Aber dass sie grübelt, gibt sie doch zu. Wenn sie über den Kupfergraben gucken müsste, sagt sie spitz, weil sie nicht schlafen könnte, "was Gott sei Dank nicht immer passiert", dann hätte sie genug andere Dinge im Kopf: "Wie machst du das jetzt, die Digitalbesteuerung mit Frankreich, wie machst du das jetzt mit dem Pakt für Migration? Ich habe da so viele Sachen, über die ich nachdenken kann und muss, da bleiben immer welche übrig, über die ich gar keine Zeit habe nachzudenken". Übrigens sei das so: "Das Überleben in der Gegenwart mit den richtigen Entscheidungen ist so anstrengend, so fordernd, dass dafür echt keine Zeit bleibt."

Merkel gelingt das Kunststück, eine auskömmliche Stunde lang über Wandel zu reden, in allen Facetten sozusagen: digital, gesellschaftlich und persönlich. Jeder Politiker, sagt sie, sollte "einen jungen Nerd" zum Lernen an die Seite bekommen. "Wir müssen wieder Prozesse verstehen, um Leitplanken zu setzen." Und welchen Nerd wünscht sie sich in der CDU nach ihrem Abgang als Parteichefin an die Spitze? Kurz sieht es aus, als gehe sie die Kandidaten Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz und Jens Spahn gedanklich durch. "Na, da wissen Sie ja, dass keiner davon für die Aufgabe geeignet ist."

Das mit dem Umbruch, hat sie zuvor noch angemerkt, betreffe übrigens auch die Wirtschaft: "Deutschland ist nicht mehr Technologietreiber." Batteriezellen, Chips, Quantencomputer und KI würden woanders hergestellt, Erfindungen kämen aus Asien oder den USA. Das sei alles noch kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, wie man es hierzulande gern täte, sagt Merkel - und lässt lässig die Physikerin in ihr aufblitzen. "Manchmal leben wir digital, indem wir dual leben. Wir kennen nur Null und Eins, sind froh oder traurig." Dabei sei es einfach nur Zeit, loszulegen. Und das sei doch eigentlich eine schöne Zeit für die Demokratie, "weil wir alle wieder miteinander reden".

Kurz vor dem Ende dann kommt sie noch, die kleine Revanche. Der 21 Jahre alte Sohn habe wissen wollen, warum der Vater als Chefredakteur überhaupt mit Merkel rede, die bleibe doch nicht noch drei Jahre. Ach, sagt die Kanzlerin milde, "it may happen". Kleine Pause. "Das sollten Sie ihm sagen. Er muss mit dem Schlimmsten rechnen." Sein Sohn habe "keine andere Erinnerung als den Bundeskanzler Angela Merkel", fragt Kister nach. Sei das nicht sonderbar? "Ich überlege jetzt gerade, was Ihrem Sohn verloren gegangen sein könnte."- "Zum Beispiel Peer Steinbrück als Kanzler." - "Also, ich habe zwei mögliche Antworten darauf. Einmal die, dass Sie das als Vater sicher kompensiert haben. Und dass es auch nicht gut sein muss, dass in der gleichen Zeit, in der ich CDU-Vorsitzende war, so viele Vorsitzende bei der SPD waren", sagt Merkel. Man streift noch kurz Horst Seehofer, der bald den CSU-Vorsitz abgibt. "Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen. Die Genesis meiner Entscheidung unterscheidet sich von der von Horst Seehofer. Aber seine Entscheidung ist auch eine, dass er den Parteivorsitz abgibt."

Dann stürmt Merkel zum Tisch, zu den Sitznachbarn, die auch zum Wandel passen. Weltweit gibt es unter mehr als 190 Regierungschefs keine zwanzig Frauen. Zwei von ihnen, die aus Island und Serbien sowie die Präsidentin von Kroatien sitzen mit Merkel an diesem Abend zusammen. Das Protokoll hatte zunächst eine Person zwischen die Serbin und Kroatin platziert. Ana Brnabić und Kolinda Grabar-Kitarović änderten das und setzten sich selbst nebeneinander. Der Abend endet so, wie auch die Zukunft aussehen kann: Vier mächtige Frauen stecken die Köpfe zusammen. Gemeinsam statt allein.

© SZ vom 15.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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