Eine Nachlese zur WTO-Konferenz:Die Angst vor Regeln

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Es waren gespenstische Bilder. Als die Konferenz der Welthandelsorganisation in Cancun zu Ende war, sah man überglückliche Globalisierungsgegner, die deren Scheitern als Erfolg feierten.

Von Nikolaus Piper

(SZ vom 20.09.2003) — Wohlhabende Menschen, die glaubten, sich der Sache der Armen anzunehmen, jubelten über ein Ergebnis, das den Armen der Welt ärmer machen wird - was für ein Missverständnis.

Die Entwicklungsländer hatten noch nie so große Chancen, die Handelsbedingungen für ihre Produkte zu verbessern. Die Chance ist fürs erste vertan - letztlich aus nichtigem Anlass. Gut möglich, dass die Vereinigten Staaten jetzt der WTO den Rücken zukehren und vermehrt bilaterale Freihandelsabkommen abschließen werden; mit Singapur, Israel und Chile gibt es sie schon.

Multilateralismus am Ende?

Bilaterale Verträge - das klingt harmlos, ist es aber nicht. Es droht nicht weniger als das Ende der globalen, an feste Regeln gebundenen Handelsordnung, genauer: des Multilateralismus. Wie ernst die Sache ist, lässt sich nur angesichts der jüngeren Geschichte begreifen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es schon einmal eine Welle der Globalisierung. Damals konnte im Prinzip jedes Land mit jedem handeln, der Goldstandard erleichterte die Finanzierung, die Zölle waren niedrig. Im Ersten Weltkrieg brach diese multilaterale Ordnung zusammen, Versuche in den zwanziger Jahren sie zu restaurieren blieben letztlich erfolglos.

In der Weltwirtschaftskrise schrumpfte der Warenaustausch auf einen Bruchteil früherer Umfänge. Damals begann die Zeit der bilateralen Handelsverträge. Berühmt und berüchtigt wurde das Vertragssystem, das Hitlers erster Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht in Osteuropa aufbaute. Die Verträge mit Ungarn, Bulgarien und anderen waren im Grunde eine höhere Form des Tauschhandels.

Nach Überzeugung von Historikern zahlte das Deutsche Reich bei diesen Verträgen drauf, aber sie erlaubten es den Nazis, den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten. Seither nennt man ein derartiges Handelssystem "Schachtianismus".

Aber auch westliche Staaten betrieben Schachtianismus, aus reiner Not. Dabei zeigten sich schnell dessen Nachteile: Handelsströme wurden völlig irrational umgeleitet, etwa weil ein Kilo Zucker aus Kuba in England viel billiger angeboten wurde als in Frankreich. Das System war unberechenbar und instabil.

Deshalb beschlossen die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg, ein System fester, multilateralen Regeln zu etablieren: Jedes Land muss alle Handelspartner gleich behandeln (Prinzip der "Meistbegünstigung"); ausländische Waren dürfen, wenn sie einmal im Land sind, nicht diskriminiert werden ("Inländerbehandlung"); Importquoten sollen abgeschafft werden, dagegen sind Zölle erlaubt, dürfen aber nicht erhöht werden.

Schon 1947 sollte in Havanna eine starke Welthandelsorganisation gegründet werden, die diese Prinzipien überwachte; dies scheiterte aber am Veto des amerikanischen Kongresses. Stattdessen wurde ein einfaches Sekretariat gegründet, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) mit Sitz in Genf.

Die heutige WTO entstand erst 1994, und zwar mit einem sehr ehrgeizigen Programm: Nicht nur der Handel mit Waren soll liberalisiert werden, sondern auch der Austausch von Dienstleistungen, es gibt Regeln für den Schutz von Patenten und Investitionen.

Und nun zeigt sich ein großer Nachteil dieser multilateralen Regeln: Sie sind in der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln. Manche sehen darin eine Einschränkung der nationalen Souveränität, was Populisten jeglicher Couleur das Geschäft erleichtert.

Insofern begegnen sich rechte Republikaner aus den Vereinigten Staaten und linke Globalisierung in ihrem Widerwillen gegen die scheinbar so mächtige WTO. Und besonders in Amerika ist die Tendenz sehr stark, den Handel künftig ganz über bilaterale Verträge zu regulieren.Das passt zur Abkehr der Regierung in Washington von anderen multilateralen Abkommen, etwa dem Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz.

Gefangene der Lobbys

Nun will heute niemand mehr im Stile der dreißiger Jahre Protektionismus betreiben. Aber bilaterale Handelsverträge sind eine heikle Angelegenheit, selbst wenn sie der Öffnung von Märkten dienen.

Denn bei diesen Verträgen spielt Macht eine viel größere Rolle als im multilateralen System. Was passiert, wenn zum Beispiel Mali mit den Vereinigten Staaten um die Öffnung des Baumwoll-Marktes verhandeln würde? Mali hat praktisch nichts anzubieten, der amerikanischen Delegation sitzt die heimische Farm-Lobby im Nacken.

Deshalb wird Mali auch nichts erreichen. Allgemeiner ausgerückt: Die Ärmsten der Armen gehen unter, die Regierungen der reichen Staaten drohen zu Gefangenen ihrer eigenen Interessengruppen zu werden. Das wird sich in Europa sehr schnell zeigen, wenn es zum Beispiel um die Öffnung des Zuckermarktes geht.

Diese Interessengruppen gibt es im übrigen auch in armen Ländern; nur so ist zu erklären, dass diese auch untereinander die Märkte mit hohen Barrieren abschotten. Unter dem Dach der WTO könnten die Interessengruppen gebändigt und das Protektions-Niveau gesenkt werden, jetzt ist diese Perspektive in weite Ferne gerückt.

Man kann nur hoffen, dass Politiker aus Brüssel und Washington den Mut haben, das Ruder noch einmal herumzureißen und in den eigenen Ländern um Zustimmung zu den unbequemen, aber so segensreichen Prinzipien des Multilateralismus zu werben.

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