Eine Armee, die mit Sicheln kämpft:Aufstand der Landlosen

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Erst waren sie für ihn, jetzt sind sie gegen ihn: Die Bewegung der Landlosen bringt mit Besetzungen von privatem Grundbesitz Brasiliens linken Präsidenten in Bedrängnis.

Von Bernd Radowitz

Die neue Heimat hatte sich der sehnige junge Mann bequemer vorgestellt. Hier in Brasiliens Südosten, an der Costa Verde mit ihren smaragdgrünen Buchten, in denen die Yachten des Jet-Sets aus dem nahen Rio de Janeiro liegen, würde auch er, der Landarbeiter, seine Chance bekommen, träumte Alexandre Santos noch vor ein paar Monaten.

Ein Landloser versucht sich mit einer Sichel vor der bewaffneten Polizei zu schützen. Foto: dpa (Foto: N/A)

Anders als auf der ausgelaugten Parzelle seiner Großeltern im Bundesstaat Paraiba, im verdörrten Nordosten, würde es in dem frischen Küstenstädtchen Mangaratiba sicher Arbeit und Essen geben. Und vor allem ein Dach über dem Kopf.

Zu Fünft auf sechs Quadratmetern

Doch das besteht vorerst nur aus einer schwarzen Plastikplane, die der 26-Jährige über Bambusstangen gespannt hat. Darunter sechs Quadratmeter Schotterboden. Hier haust er seit Mitte März mit seiner Frau Renata, deren Großmutter Eunice, dem fünfjährigen Sohn Eliah und der vier Monate alten Alessandra.

Das wenige Geld, das er in den vergangenen acht Monaten für das Sammeln von Altmetall bekam, reichte nicht, um 35 Euro im Monat für ein Einzimmerappartement zu bezahlen. Der Vermieter setzte die Familie kurzerhand auf die Straße, wie Santos erzählt. Seine dunklen Augenlider hängen halb herunter, ermattet denkt er an die Ratlosigkeit der letzten Monate zurück. "Meine größte Hoffnung ist jetzt, ein Stück Land zu kriegen."

Mehr als Zehntausende sind mobilisiert

Er hat dieser Hoffnung ein Signal gesetzt. In vier Metern Höhe weht über seiner Behausung die rote Flagge des Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST), der Bewegung der landlosen Feldarbeiter. Die Fahne ist ein Farbtupfer, der immer wieder die Monotonie der 400 Plastikhütten unterbricht. Sie ist aber vor allem ein Fanal des Aufruhrs an die Großgrundbesitzer und nicht zuletzt an Präsident Luiz Inacio Lula da Silva.

Denn bei der Elendssiedlung an der Ortsausfahrt von Mangaratiba handelt es sich nicht um eine von Brasiliens unzähligen Favelas, sondern um die gezielte Besetzung eines privaten Landguts. Quer durch das südamerikanische Riesenland wurde die rote MST-Flagge in den vergangenen Wochen immer öfter gehisst. Die Bewegung der Landlosen hat Zehntausende zu spektakulären Besetzungen mobilisiert, um die Regierung zu einer schnelleren Landreform zu drängen.

Aus dem Volk, aber nicht für das Volk

Dabei marschierten jahrelang die MST und Lulas Arbeiterpartei gemeinsam, um die Eigentumsverhältnisse zu ändern in einem Land, in dem ein Prozent der Landeigner fast die Hälfte allen Bodens besitzt. Jeden Tag hätten sie gebetet, dass Lula Präsident wird, sagt Alexandro Santos bitter. Wie er, hatte sich ja auch Lulas Familie einst vom bettelarmen Nordosten in den reicheren Südosten aufgemacht.

Doch nach 16 Monaten Amtszeit der linken Regierung haben sich die Lebensverhältnisse für Santos und seine Familie nicht verbessert. "Lula kommt aus dem Volk, macht aber keine Politik fürs Volk", resümiert auch der MST-Lagerleiter Pedro Costa verärgert, während er im Zelt der Gemeinschaftsküche nach dem Rechten sieht. Stolz zeigt er Reis und Bohnen, die von Kirchengruppen und Gewerkschaftern gespendet wurden, hungern muss hier niemand.

Der schnauzbärtige Pedro Costa verhehlt nicht, dass die Landlosenbewegung größere Ziele verfolgt als nur eine Neuverteilung des 650 Hektar großen besetzten Landguts, das von der Umweltbehörde zum Naturschutzgebiet in Privatbesitz erklärt worden war. "Wir wollen eine sozialistische Republik", gibt er offen zu und blickt bedeutsam durch seine ovale Brille - ein Che Guevara im tropischen Küstenparadies.

"Wir wollen eine sozialistische Republik"

"Der April wird Feuer fangen", hatte Joao Pedro Stedile, der nationale Führer der Landlosen, Ende März erklärt und gedroht, man werde Regierung und Großgrundbesitzern das Leben "zur Hölle machen". Seine entflammten Worte zeigten Wirkung. In gut einem Monat organisierte die MST 135 Landbesetzungen, an denen über 30.000 Familien beteiligt sind.

Schockiert zeigen Brasiliens Medien täglich, wie Scharen armselig gekleideter Menschen mit roten Baseballkappen auf dem Kopf und Sicheln in der Hand neue Ländereien besetzen oder Blockaden aus brennenden Autoreifen errichten. Im Bundesstaat Bahia zerhackte das moderne Lumpenproletariat hektarweise neu gepflanzte Eukalyptusbäume eines Zellulosemultis, um statt dessen Mais und Bohnen auszusäen.

Regierung sinkt in Umfragen

Für Landwirtschaftsminister Roberto Rodrigues sind die Invasionen "besorgniserregend" und "ärgerlich", zumal die Regierung schon wegen der hartnäckig hohen Arbeitslosigkeit und eines Bestechungsskandals seit Monaten in Umfragen absinkt.

Dabei war der Konflikt vorprogrammiert. Noch im Wahlkampf hatte Lula eine umfassende Landreform versprochen und damit bei 4,6 Millionen Familien, die laut MST-Führung auf Land warten, wahrscheinlich unrealistische Erwartungen geweckt. Bis jetzt wurde aber erst an knapp 46 000 Familien Land verteilt.

Mit privaten Sicherheitsdiensten gegen die Landbesetzer

Auch die Bauernverbände machen Druck, allen voran die rechtslastige Uniao Democratico Ruralista (Demokratische Landunion). Deren Vorsitzender Luiz Antonio Garcia rief die Grundbesitzer dazu auf, private Sicherheitsfirmen einzuschalten, um sich gegen die Landbesetzer "zu verteidigen".

Insgeheim unterstützt die Landunion aber seit längerem illegale Landmilizen, die für ihre Schießfreudigkeit bekannt sind. Auseinandersetzungen um Land forderten in Lulas erstem Amtsjahr nach Regierungsangaben 42 Menschenleben, mehr als doppelt so viel wie noch im Jahr zuvor.

485 Millionen Euro von der Regierung

Die Lage ist auf beiden Seiten gespannt. "Wenn die einen von uns töten, bringen wir zehn von ihnen um", warnte Jaime Amorim, der MST-Führer im Bundesstaat Pernambuco. Die Landreform werde nicht mit Geschrei herbeigeführt, weder von den Landarbeitern, noch deren Gegnern, warnte daraufhin ein ungewöhnlich irritierter Lula und fügte an, die soziale Gerechtigkeit werde ruhig und friedlich kommen. Ganz unbeeindruckt scheint die Regierung aber doch nicht, da sie inzwischen 485 Millionen Euro für die Landreform locker machte.

Alexandre Santos im Landlosencamp in Mangaratiba bleibt aber skeptisch, ob der Geldsegen aus dem fernen Brasilia ihm und seiner Familie das ersehnte Stück Land beschert. "Viele haben uns schon Versprechungen gemacht und sie dann nicht eingehalten", sagt er.

© SZ vom 05.05.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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