Diskussion um Weiterbildung:Zu Tode gesiegt

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Die berufliche Weiterbildung stirbt - und mit ihr eine ganze Denkschule.

Von Sonja Zekri

Ein halbes Jahr lebt die Republik nun mit Hartz IV -- und stellt fest: Die Reform hat nicht nur verwirrende Neuigkeiten gebracht. Sie ist auch ein Abschied auf Raten von der Vorstellung, dass sich die Arbeitslosigkeit durch beitragsfinanzierte Weiterbildung und Qualifizierung wirksam bekämpfen lässt.

30 Jahre nach ihrer Schöpfung scheint die berufliche Qualifizierung im Kampf gegen Arbeitslosigkeit so vielversprechend wie Tütenkleben. Spätestens in diesem Herbst, vermutet Frank Jelitto, Leiter des Weiterbildungsinstituts SSI in München, werde die Weiterbildung "klinisch tot " sein -- und mit ihr stirbt eine ganze Denkschule.

Noch mal ganz neu anzufangen, größere Brötchen zu backen, Bildung für jedermann in jedem Alter, diese Vision verknüpfte zwei große sozialdemokratische Glücksversprechen - Wohlstand plus Aufklärung und Bildung für alle - auf mitreißende Weise.

"Von dem, was wir als Menschen wissen, kommt unsere schönste Bildung und Brauchbarkeit für uns selbst her, noch ohne zu ängstliche Rücksicht, was der Staat aus uns machen wolle. Ist das Messer gewetzt, so kann man allerlei damit schneiden": Herders marktfernes Selbstoptimierungsideal inspirierte einst auch die Weiterbildung.

Inzwischen sind die Messer gewetzt, aber gesäbelt wird kaum im Sinne Herders. Die Zahl der Weiterbildungsteilnehmer ist in zwei Jahren auf ein Drittel geschrumpft, von 307 000 im Januar 2003 auf 114 017 im Mai 2005. Der entsprechende Etat der Bundesagentur wurde seit 2003 auf 1,85 Milliarden Euro halbiert. Schulleiter Jelitto hat in drei Jahren zwei Drittel seiner Schüler und über die Hälfte seiner Mitarbeiter verloren.

Der kostbarste Rohstoff

Die Deutsche Angestellten-Akademie (DAA), einer der größten Bildungsträger, hat von 2000 Mitarbeitern 800 entlassen. Bundesweit, so der Bundesverband der Träger beruflicher Weiterbildung, wurden seit 2003 etwa 30.000 Mitarbeiter dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt.

Ein paar gingen in die Wirtschaft, ein paar in den Schuldienst, ein paar in Frührente. Der Rest, sagt Jelitto, "hat die Arschkarte gezogen", er ist arbeitslos. Die Branche, die als Nothelfer gegen den sozialen Abstieg begann, produziert inzwischen selbst so zuverlässig Sozialfälle wie der Bergbau.

Aber hat sie das nicht immer schon getan? Eine Umfrage ergibt vor allem Vernichtendes: "Weiterbildungsmaßnahmen verlängern die Arbeitslosigkeit, und je länger sie dauern, desto schlechter ist ihre Bilanz", erklärt Guido Raddatz von der Stiftung Marktwirtschaft.

"Ein Mensch in einem Computerkurs sucht keinen Job." In Sachsen, berichtet Birgit Schultz, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Institut für Wirtschaftsforschung, habe man für eine Studie Paare gebildet: Solche, die an einer Weiterbildung teilnehmen, gegenüber jenen mit ähnlicher Biographie, aber ohne Qualifizierung. Zehn Jahre, von 1989 bis 2001 wurden die Paare beobachtet. Das Ergebnis: "Die Weiterbildung hat den Menschen nicht geholfen."

Die Kurse sind billiger als eine Berufsschulstunde, rechnet Günter Plafky, Leiter der DAA Südbayern, vor. Was er nicht sagt: Sie sind teurer als gleiche Zeitspannen eins Durchschnittsstudiums.

Eine verheerende Bilanz. "Ja", ergänzt Viktor Steiner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: "Aber ich kann Sie trösten: Andere Instrumente sind noch teurer und bringen noch weniger."

Und lange Zeit ging es gar nicht um den Job allein. "Wir müssen Bildung auf Vorrat schaffen, Bildung ist der einzige Rohstoff, den wir haben: So war die Stimmung damals", sagt Plafky.

In nachgeholten Hauptschulabschlüssen und neuen Spezialisierungen drückte sich eine neue Selbstverpflichtung zum lebenslangen Lernen aus -- und eine emanzipatorische Errungenschaft.

Defizite und Irrtümer früherer Bildungssysteme sollten ausgeglichen, neue Talente, neue Welten entdeckt werden. So gering war das Interesse am ökonomischen Nutzen solcher Fortbildung, dass die Arbeitsämter sich lange Zeit nicht mal die Mühe einer bundesweit einheitlichen Evaluation machten.

Damit siegte sich eine gute Idee zu Tode. Als der Markt nach der Vereinigung explodierte, wurden bis zu einer halben Million Menschen durch die Kurse geschleust. Auf dem Höhepunkt des Qualifizierungsrausches gab die Bundesanstalt zehn Milliarden Euro aus, so viel wie das Bruttosozialprodukt von Mali.

Inzwischen weiß man: Es war ein teures Vergnügen. Man weiß, dass der Aufwand oft nur der Kosmetik der Arbeitslosenstatistik diente; dass im Osten ganze Belegschaften abgewickelter Betriebe zwangsbeglückt wurden, obwohl einzelne mühelos einen Job gefunden hätten; dass motivierte Umsteiger neben Überschuldeten saßen, die nachts schufteten und im Unterricht dösten, oder neben Mittfünfzigern, die dem Ruhestand in langen Förderungsschleifen entgegengondelten -- Weiterbildung, Arbeitslosengeldanspruch, Weiterbildung, Arbeitslosengeldanspruch und so weiter bis zur Rente -- kurz, man weiß, dass der Rohstoff Bildung im großen Stil verramscht, verschleudert und entwertet wurde.

Bis heute sitzen in den großen Instituten -- wie der gewerkschaftseigenen DAA -- Vertreter jener Institutionen, die auch im Aufsichtsrat der Bundesagentur sind, ein Klüngel, den vor allem die kleineren Organisationen beklagen.

Am Bedarf vorbei aber haben sie alle ausgebildet. Als die New Economy schon siechte, wurden noch IT--Spezialisten auf den Markt geschickt. "In München wurden 2001 noch 1200 Mediengestalter ausgebildet", sagt Jelitto: "200 haben einen Job gefunden, der Rest nicht." Es gebe nur eines, was auf Dauer teurer sei als Bildung: keine Bildung, hat John F. Kennedy einmal gesagt. In den Neunzigern wirkte solcher Optimismus fast sentimental.

Die Auswüchse bestreiten heute nicht mal Gewerkschafter. Dass jede Qualifizierung nurmehr einzig unter Effizienzaspekten diskutiert wird, dass es nur darum geht, "was der Staat aus uns machen wolle", mag die Folge einer allgemeinen Ökonomisierung des Lernens sein, die bereits im Kindergarten mit Blick auf künftige Jobprofile Bauklötze stapeln lässt. Aber der Unmut über die Weiterbildung ist auch eine direkte Folge der Reputation als "Milliardengrab".

Dabei sind die Auswahlkriterien sorgfältiger geworden, die Kontrollen durch Bildungsgutscheine für erfolgreiche Institute strenger, die Motivation, oder auch: die Verzweiflung, der Teilnehmer größer und der Preiskampf härter. Viel härter, oft kannibalistisch hart. "Nehmen Sie doch einen tamilischen Studenten", hörte Jelitto von einem Arbeitsberater: "Der macht ihnen die EDV-Stunde für weniger Geld." Der Rohstoff Bildung wird gerade zum zweiten Mal entwertet.

Inzwischen untersuchen Studien nicht mehr nur die kurzfristigen Effekte, sondern auch die Langzeitwirkung der Weiterbildung. Und siehe, das Ergebnis sieht nicht mehr ganz so finster aus: "Die Wahrscheinlichkeit, Arbeit zu haben, ist in Westdeutschland bei ehemaligen Teilnehmern vier Jahre nach der Weiterbildung immerhin um fünf bis neun Prozent höher als bei vergleichbaren Personen, die keine Fortbildung absolviert haben", stellt das Institut für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung der Bundesagentur in einer Studie fest. Nur: Was bedeuten jene neun Prozent, wenn, umgekehrt, in der Parallelgruppe 90 Prozent auch ohne Kurs einen Job gefunden haben?

Klassenziel: Job

Gewiss, Akademiker werden nicht so häufig arbeitslos wie Nicht-Akademiker, und sie werden seltener von polnischen Ausbeinern verdrängt. Gewiss auch, in Ostdeutschland fehlen mancherorts schon Fachkräfte.

Und natürlich wird niemand, weder Bundesagentur noch Politik, weder Regierung noch Opposition zugeben, dass das Mantra vom lebenslangen Lernen gerade bei den Ungelernten nicht sehr überzeugend klingt. Wenn aber der Gewerkschafter Plafky jeden Effizienz-Anspruch mit der Bemerkung vom Tisch wischt, dass nicht die Bildungsträger, sondern einzig Unternehmer Arbeitsplätze schaffen, dann ist das Trotz, aber auch ein bisschen Wahrheit: Wo die Jobs fehlen, nützt die beste Ausbildung nichts.

Gegen die Härten einer globalisierten Welt, so heißt es trotz allem, helfe nichts außer Bildung. Aber welchen Sinn hat es, fragen Leidgeprüfte, sich durch eine Physiotherapeuten-Ausbildung zu quälen, wenn es vielen Firmen vor allem darum geht, ob die Kollegen aus Osteuropa den Job für zwei Euro weniger erledigen? Wofür Office pauken, wenn der Betrieb demnächst in Tschechien fertigen lässt?

Vielleicht wird eine unionsgeführte Regierung die Bundesagentur wieder umkrempeln, vielleicht werden ein paar Bildungsträger übrigbleiben, um versprengten Reha-Schülern die Anmut von Windows XP nahezubringen. Roland Koch, Hessens Ministerpräsident, hat angekündigt, "Umschulungen und Qualifzierungen" solle es nur geben, "wenn die konkrete Hoffnung auf einen Arbeitsplatz besteht".

Das würde die Bundesagentur sofort unterschreiben, aber eine Liebeserklärung an die Weiterbildung ist es nicht. "Bildung", schrieb Adorno, ist "gleich Warten können". Dass Warten bildet, schrieb er nicht.

© SZ vom 30.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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