Die schwierige Suche nach den Standards der Zukunft:Die Herren der Norm

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109.920 Seiten Bürokratie in einem Jahr, und das alles nur, um den Alltag zu erleichtern - trotzdem wird die Arbeit der Berliner Einrichtung gerne belächelt.

Von Björn Finke

An zwei langen Tischreihen sitzen sie einander gegenüber, vor sich Papierstapel und Kaffeetassen. Am Kopfende des Saals stehen Tische quer, darüber das helle Viereck, das der Beamer an die Wand zeichnet.

Es ist heiß in Raum 909, einigen Zuhörern perlt Schweiß auf der Stirn, und ihr Blick schweift ab, weg vom Beamer-Viereck, weg von den Papieren, hin zu dem strahlend-blauen Rechteck, das ein Fenster aus dem sonnigen Berliner Himmel herausschneidet. Unten hat das Rechteck eine Delle, da ragt die Kuppel des Reichstages hinein.

Mit den Parlamentariern, die dort tagen, haben die Teilnehmer dieser Sitzung einiges gemein. Auch bei ihnen suchen Interessen einen Ausgleich, es wird taktiert und debattiert, vorgeschlagen und verworfen - und am Ende abgestimmt.

Doch ist das Ergebnis kein Gesetz, sondern eine Norm: Die Versammlung tagt im neunten Stock des DIN, des Deutschen Instituts für Normung.

50 Mitglieder der Arbeitsgruppe CEN/TC205/WG14 diskutieren gerade, welche Qualität Tücher haben sollen, mit denen Ärzte bei Operationen den Bereich um die Wunde abdecken. Ein neuer Standard ist das Ziel.

Dies ist für Deutschlands Zukunft vielleicht nicht ganz so wichtig wie die Unternehmenssteuerreform, die unter der Reichstagskuppel erörtert wird.

Dennoch werden in dem schnörkellosen Bau in der ruhigen Nebenstraße des Stadtteils Tiergarten täglich Entscheidungen gefällt, die Märkte verändern. Und das in einer Einrichtung, die Inbegriff ist für preußische Tugenden: Ordnung, Sachlichkeit, vielleicht auch Kleinkariertheit.

Dienstleistungen werden wichtiger

Torsten Bahke ist der Herr der Normen. Der 54-Jährige steht dem DIN als Direktor vor. Der schlaksige Ingenieur wirkt gar nicht wie ein Bürokrat, mit seiner gepunkteten Krawatte in schwarz-gelb und dem spitzbübischen Lächeln. "Wir produzieren keine Papiere um der Papiere willen. Normen machen das Leben leichter", sagt er, und bei jedem Wort teilt er die Luft mit einem Handkantenschlag.

Sein Institut ist Gastgeber für viele Gremien wie das der OP-Tuch-Experten. Die Gruppen nehmen die Rolle des Gärtners im Angebotsdickicht ein: Sie hegen den Wildwuchs bei Produkten und Dienstleistungen ein - indem sie Standards festschreiben, an denen sich Hersteller und Käufer freiwillig orientieren können.

Im vergangenen Jahr betreute das DIN 76 Normungsausschüsse und 3109 Arbeitsgruppen. Diese verabschiedeten 2339 Normen zu Themen wie der Güte von Sonnenbrillen oder den Inhalten von Tauchkursen. Der Papierausstoß stieg von 106.300 Seiten im Jahr 2003 auf 109.920 Seiten, wie das Institut nicht ohne Stolz im Geschäftsbericht vermeldet.

Den Nutzen der Dokumentenflut erkennen Verbraucher, wenn Normen fehlen - oder es konkurrierende Standards gibt: Dann stellen Urlauber fest, dass der Tauchkursanbieter eine sehr eigene Vorstellung davon hat, wie ein Lehrgang auszusehen hat.

Im Hotelzimmer passt der Stecker des Rasierers nicht in die Steckdose, und das heimische Mobiltelefon hat keinen Empfang. Aber auch Firmen machen Festlegungen das Leben leichter. Ist das Ersatzteil oder die Schraube genormt, passen sie zur Maschine.

Standards für Schrauben stehen jedoch eher für die Vergangenheit: "Dienstleistungen werden wichtiger", sagt Bahke. Inzwischen existieren um die 100 Normen für Dienste. Die Namen machen wenig Lust auf Lektüre. So hat die DIN-Norm 33430 den Titel "Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen".

Wer Personalberater mit Einstellungstests betrauen will, kann bei der Ausschreibung auf die Norm verweisen. Die Standards lesen sich wie Gesetzestexte - verklausuliert und akkurat.

Gescheitert: der Staubsaugerbeutel

Die DIN-Norm 77400 etwa, die Anforderungen an die Reinigung von Schulgebäuden festlegt, unterscheidet bei Punkt 3.3 genau zwischen haftender und nicht-haftender Verschmutzung: Haftend ist Dreck, der sich nicht direkt aufheben lässt. Das hat man geahnt, aber noch nicht gelesen.

Diese Meisterwerke zeitgenössischer Juristen-Prosa füllen in der Bibliothek des DIN sechsstöckige Regalwände. Leise summt das Gebläse, durch das offene Fenster dringt Vogelgezwitscher. Hier sind alle gültigen Normen - inzwischen 29713 - in blauen Leitz-Ordnern abgeheftet, selbstverständlich auf DIN-A4-Blättern.

Vor dem Wall aus Normen sitzt ein älterer Mann und schreibt einen Standard ab. Kopierer können die Besucher nicht nutzen: Schließlich deckte das Institut 2004 zwei Drittel seiner 57 Millionen Euro Jahresetat dadurch, Normbeschreibungen zu verkaufen. Der Rest stammt aus Beiträgen von Firmen oder Projektmitteln des Bundes und der EU.

Damit bezahlt die Einrichtung 383 Beschäftigte, die sich im Flur-Labyrinth des Gebäudes offenbar gut zurechtfinden. Sie sind aber nur Manager und Moderatoren - Entscheidungen fällen die 27 000 Experten in den Normungsausschüssen. Die Vertreter von Firmen und Verbänden, aus Forschung und Verwaltung besprechen, was Stand der Technik ist und Norm werden soll. Derart viele ehrenamtliche Fachleute hat weltweit keine andere Normeinrichtung. Ein Standard wird von allen diskutiert, die betroffen sein könnten, den so genannten "interessierten Kreisen".

Einen Antrag auf Normung kann jeder an das Institut richten. Die Berliner ordnen das Papier einem Ausschuss zu; der entscheidet, ob er das Verfahren lostritt. Sträuben sich Hersteller oder Verbraucher gegen die Standardisierung, gibt es keine Norm.

Gescheitert ist zum Beispiel die Norm für Staubsaugerbeutel. Verbrauchervertreter hatten sich über die verwirrende Vielfalt an Beuteln geärgert und einen Standard angeregt, damit wenige Beutel alle Sauger-Fabrikate abdecken. Doch sowohl Staubsauger- als auch Beutelindustrie lehnten den Einheitssack ab - weil sie ihre Modelle nicht ändern wollten und abgeschottete Märkte für Spezialbeutel wohl auch lukrativer sind. "In den Sitzungen kracht es manchmal ganz schön", sagt Bahke.

Nichts für schnelllebige Branchen

Einigen sich die Parteien, veröffentlicht das Gremium einen Normentwurf. Wird in den nächsten Monaten kein Einspruch eingelegt, wandelt sich der Vorschlag zur Norm. Das Verfahren ist - wie kann es anders sein - in einer Norm beschrieben: DIN 820 heißt die Norm der Normung.

Im Schnitt dauert der Prozess vier bis fünf Jahre; insgesamt werden in Deutschland für die Suche nach Normen 770 Millionen Euro jährlich ausgegeben.

"Das Geld ist gut angelegt", findet Knut Blind vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe.

Der Ökonom hat 2000 errechnet, dass Normen der deutschen Wirtschaft jedes Jahr Vorteile im Wert von 16 Milliarden Euro bringen, weil nicht jede Firma ihren eigenen Standard entwickeln muss und Normen den Welthandel vereinfachen.

Allerdings ist das langwierige Verfahren nichts für schnelllebige Branchen wie Unterhaltungselektronik oder Kommunikationstechnik.

Hier schließen sich große Hersteller oft zu Konsortien zusammen, die einen Industriestandard festlegen, zum Beispiel für DVD-Formate. "So zügig, wie dort Produkte eingeführt werden, kann kein Normungsprozess sein", sagt DIN-Direktor Bahke. "Aber vielleicht wird ja der Standard später zur offiziellen Norm." Normen hätten mehr Legitimität als bloße Industriestandards, da auch Verbraucher und kleine Betriebe angehört würden.

Die Normungsexperten in den Unternehmen haben jedoch häufig einen schweren Stand. "Es gibt das Klischee vom Verwalter mit Ärmelschonern, der den Entwicklern Ordner mit Normen vorbeibringt", klagt Bahke. Dabei stelle Normung eine strategische Aufgabe dar: "Wer sich einbringt, kann den Standard zu seinen Gunsten beeinflussen."

Deutsche Interessen wahren

Das sei besonders wichtig auf internationaler Ebene. Und Normung ist inzwischen weitgehend international. Von den neuen Normen 2004 waren nur 16 Prozent rein deutsche Festlegungen, der Großteil wurde von der europäischen Normungsorganisation oder dem weltweiten Pendant ISO, der International Organization for Standardization in Genf, übernommen. Die Regelwerke heißen dann DIN EN - für Europa-Standards - oder DIN ISO. Das Berliner Institut vertritt Deutschland in den Vereinigungen. Dies bestimmt ein Staatsvertrag von 1975.

Auf nationaler Ebene streiten Verbraucher und Hersteller, in den internationalen Gremien versuchen Staaten, die günstigste Norm für ihre Wirtschaft durchzusetzen. Die haupt- und ehrenamtlichen Fachleute des DIN passen auf, dass die Vorschläge deutsche Interessen berücksichtigen.

Selten ist der Fall so eindeutig wie beim Entwurf einer ISO-Norm für den Test neuer Schiffe: Asiatische Normer hatten in den Vorschlag aufnehmen lassen, dass Werften Schiffe auf See bei mindestens 10.000 Metern Wassertiefe testen müssen. Solche Gewässer gibt es im Pazifik, nicht in der Nordsee - schlecht für hiesige Anbieter. "Das haben unsere Experten in letzter Sekunde bemerkt und verhindert", sagt Bahke, zugleich Vizepräsident der ISO, mit triumphierendem Lächeln.

Deutsche Fachleute stehen immerhin 28 Prozent der europäischen und 17 Prozent der ISO-Gremien vor. Doch in manch zukunftsträchtigem Bereich muss Deutschland aufholen. So sind die Briten bei Normen für die Nanotechnik vorangeprescht.

Sie hatten sich früh mit dem Thema beschäftigt, dann als erste die Gründung eines ISO-Ausschusses beantragt und jetzt die Federführung bekommen. Das schafft Vorteile bei Verhandlungen. "Hier müssen wir endlich in die Schluppen kommen", meint Bahke.

Die Arbeitsgruppe CEN/TC205/ WG14 hat derweil ihr Treffen in Berlin zum Thema OP-Abdecktücher beendet - nach sechs Stunden. Auch das ist kein nationaler, sondern ein europäischer Ausschuss, dessen Geschäfte eine Referentin des DIN führt.

Den Vorsitz hat ein österreichischer Hygiene-Experte inne, Heinz-Peter Werner. Ein wuchtiger Mann, der schon viele Gremiensitzungen erlitten hat und deshalb seelenruhig Sachen sagt wie "So ein Ausschuss ist eine Horde von 50 Wahnsinnigen."

Genauer wird er nicht, denn die Versammlungen sind nicht öffentlich. Aber die Arbeit eines Ausschusses kann man sich vorstellen wie ein EU-Minister-Treffen. Alle Vertreter haben von zu Hause ein Verhandlungsziel mit auf den Weg bekommen. Dann wird so lange diskutiert, bis sich die Mehrheit auf einen Kompromiss einigen kann.

Oder es gibt keinen - und damit keine Norm. Das kann sehr anstrengend sein, vor allem, wenn draußen die Sonne vom Himmel über Berlin herabbrennt, und der Raum von Stunde zu Stunde wärmer wird. Am Ende hat der Ausschuss für einige Themen einen Konsens gefunden. Doch bei den Qualitäts-Grenzwerten für OP-Tücher gab es keine Einigung - die Sache ist vertagt auf das nächste Treffen im September.

© SZ vom 11.06.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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