Die Bürgerversicherung - Pro:Die solidarische Alternative

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Ein neuer Spuk hat viele neoliberale Ökonomen aufgeschreckt. Der Spuk der Bürgerversicherung. Ihnen graust bei dieser Vokabel, sie sehen das heutige System mit 320 Krankenkassen und fürchten die weitere Ausdehnung - bis der Sozialmief das Land völlig betäubt hat. Wer genauer hinsieht, entdeckt keinen Spuk.

Von Andreas Hoffmann

(SZ vom 26.7.03) - Im Gegenteil. Die Bürgerversicherung zeigt den Weg in den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts. Worum geht es?

Die gesetzliche Krankenversicherung hat kein Geld mehr. Rote und schwarze Finanzminister haben den Kassen immer mehr Lasten aufgebürdet. Zugleich schrumpfte ihre Einnahmebasis, weil weniger Menschen einen sozialversicherungspflichtigen Job haben.

Mehr Arbeitslose, weniger Geld

Viele Menschen arbeiten selbständig oder projektbezogen, weil dies die flexible Arbeitswelt erwartet. Der Nachteil: Den Kassen fehlen Einnahmen. Dies ist besonders problematisch in der Flaute. Dann sind mehr Menschen arbeitslos, wodurch den Kassen noch mehr Geld fehlt.

Jede Gesundheitsreform muss dies Problem lösen, die Kasseneinnahmen müssen unabhängiger werden von Konjunktur und Arbeitsplatz. Bei den jüngsten Gesundheitsverhandlungen trauten sich die Parteien an dieses Thema nicht heran, leider.

Die Bürgerversicherung erweitert die Finanzbasis der Kassen. Beamte und Selbständige zahlen ein, für Miet- und Zinseinnahmen wird auch ein Beitrag fällig. So verteilt sich die Finanzierung des Krankheitsrisikos auf viele Schultern, der Einzelne trägt weniger. Der Kassenbeitrag sinkt und damit sinken auch die Lohnnebenkosten - gut für neue Arbeitsplätze.

Je ärmer, desto kränker

Das Konzept der Bürgerversicherung ist auch gerecht, weil eine breite Finanzbasis die heutigen Ungerechtigkeiten mildert.Das Risiko krank zu werden, verteilt sich ungleich und hängt vom Einkommen ab: Je ärmer, desto kränker.

Dazu sind die Ausgaben unterschiedlich verteilt. 92 Prozent der Krankheitskosten verursachen 20 Prozent der Bürger, vor allem chronisch Kranke und alte Menschen.

Diese Ungleichgewichte lassen sich durch eine breite Finanzbasis mildern. Die Ausgaben verteilen sich, ohne dass der einzelne Patient enorm belastet wird. Das Gegenbild sind die Vereinigten Staaten Dort kann eine ernste Krankheit für einen einfachen Arbeiter in die Armut führen. Aber wenn die Bürgerversicherung viele Vorteile hat, warum ist sie nicht längst Realität?

Die Antwort ist einfach: Mächtige Lobbyisten sind dagegen. Etwa die Privatversicherer. Sie würden lukrative Kunden, Beamte und Selbständige, verlieren. Die Bundesländer müssten mehr Geld ausgeben, wenn für Staatsdiener Kassenbeiträge fällig würden. Also blockieren sie das Konzept.

Notwendige Fristen

Jede Einführung der Bürgerversicherung braucht somit Zeit. Die Finanzlast für die Länder muss überschaubar bleiben, und die privaten Krankenversicherer brauchen Fristen, um neue Geschäftsfelder zu finden.

Sie könnten etwa Krankenzusatzversicherungen anbieten, während die gesetzlichen Kassen den Vollschutz übernehmen. Dies ist eine Arbeitsteilung, die in vielen Ländern praktiziert wird. Aber was ist mit der Alternative zur Bürgerversicherung, der "Gesundheitsprämie", die der Sozialexperte Bert Rürup propagiert?

Ringen der Lobbyisten

Das Konzept ist nur auf den ersten Blick eine Lösung. Nach Rürups Idee soll jeder den gleichen Beitrag zahlen, etwa 200 Euro im Monat. Bedürftigen hilft der Staat, mindestens 25 Milliarden Euro Steuergeld würden jedes Jahr fällig. Das Geld aber hat der Staat nicht, also würden Politiker und Lobbyisten jedes Jahr einen Milliardenringkampf veranstalten - die permanente Gesundheitsreform.

Das System würde abhängiger vom Auf und Ab der Wirtschaft. Steuereinnahmen schwanken im Verlauf der Konjunktur. Geht es den Firmen gut, fließt viel Geld, in der Flaute weniger. Gerade dann braucht der Staat aber mehr Geld, weil mehr Menschen arbeitslos und bedürftig sind.

So ist bereits klar, wie der Kampf um die Milliarden ausgeht; der jüngste Reformkompromiss zeigt es. Den Patienten werden mehr Lasten aufgebürdet. Schließlich schafft die Gesundheitsprämie neue Bürokratie. Der Staat müsste die Bedürftigkeit prüfen, neue Behörden würden nötig.

Nicht besonders zukunftsweisend

So erhält die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen wieder das Etikett der Fürsorge, Deutschland knüpft im 21. Jahrhundert an die Zeiten von Oliver Twist an. Besonders zukunftsweisend ist dies nicht, zumal das Modell seine Überlegenheit nicht bewiesen hat. In der Schweiz, die die Prämien eingeführt hat, liegen die Gesundheitsausgaben höher als hier zu Lande.

Die Gesundheitsprämie ist ein Modell für die Theorie, nicht für die Praxis. Langfristig gibt es zur Bürgerversicherung keine Alternative.

Wobei klar sein muss: Die Bürgerversicherung darf nicht nur mehr Geld in das System spülen. Viel wichtiger als neue Einnahmen ist es, die verkrusteten Strukturen zu ändern, also Ärztekartelle aufzubrechen oder den Pillenmarkt transparenter zu machen. Daran haben sich die Politiker nur zögerlich versucht. Die Macht der Lobbys war stets stärker. Bis heute.

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