Deutschlands Sachverständigenrat:Die Weisen aus dem Sorgenland

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Wie die Professoren-WG aus dem zwölften Stock des Statistischen Bundesamts das dicke Buch erstellt, das den Deutschen zeigt, wo es langgeht.

Von Nikolaus Piper

Ein wenig, sagt Bert Rürup, geht es unter den Weisen zu wie in einer Familie. "Mit dem Unterschied, dass man sich seine Frau normalerweise selber aussucht, die Kollegen aber nicht."

Ja, man lerne sich schon sehr gut kennen bei dieser Arbeit, auch mit seinen jeweiligen Marotten, findet Wolfgang Franz. "Da liegen schon mal die Nerven blank." Und ein dritter meint: "Seit wir eine Frau dabei haben, ist der Umgang gesitteter geworden."

Das Gespräch findet in der Kantine des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden statt, und hier beim Mittagessen wirken sie tatsächlich wie eine Familie, oder besser: wie die Angehörigen einer gereiften Wohngemeinschaft.

Unvergleichlich

Vier Männer und eine Frau, die Mitglieder des "Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage", so der offizielle Titel. Die "Fünf Weisen" sind eine Institution, die zur bundesrepublikanischen Identität gehört wie die Tagesschau, die Bundesliga oder der Musikantenstadl. An diesem Mittwoch legen sie in Berlin ihr neues Jahresgutachten vor.

Vergleichbares gibt es in anderen Ländern nicht. Frankreich hat zwar einen Conseil d 'analyse économique, dem gehören aber nicht weniger als 40 Mitglieder an, Vorsitzender ist der Premierminister selbst.

Der Council of Economic Advisers (CEA) in den USA ist direkt dem Präsidenten unterstellt, seine drei Mitglieder können jederzeit und ohne Angabe von Gründen entlassen werden.

Der deutsche Sachverständigenrat dagegen ist unabhängig, und diese Unabhängigkeit ist gesetzlich geschützt. Die Mitglieder werden zwar vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung ernannt; hinterher können sie jedoch, im Rahmen des gesetzlichen Auftrags, fünf Jahre lang sagen und schreiben, was sie wollen.

Der Rat hat einen eigenen wissenschaftlichen Stab, eine Geschäftsstelle, eine Website und Arbeitsräume im zwölften Stock des Statistischen Bundesamtes, zu denen man über einen Paternoster gelangt, der ungefähr so alt sein dürfte wie der Rat selbst: 41 Jahre.

Ihren Gegnern, und deren gibt es viele, erscheinen die Weisen wie ein neoliberales Ökonomenkartell, das immer wieder die gleichen marktwirtschaftlichen Vorschläge unters Volk bringt.

Links, rechts, unabhängig

Das Klischee hat mit der Wirklichkeit allerdings herzlich wenig zu tun. Wolfgang Wiegard, 58, zum Beispiel. Der Vorsitzende des Rates ist Professor für Finanzwissenschaften an der Universität Regensburg und SPD-Mitglied.

Er hat die Ökosteuer vorgedacht und ist insofern "links". Andererseits fordert er Reformen auf dem Arbeitsmarkt und niedrigere Steuersätze, was allgemein als "rechts" gilt.

Neben ihm Bert Rürup, 60, Professor an der TU Darmstadt und seit Jahren der in Berlin einflussreichste Wirtschaftsprofessor. Einerseits ist auch er in der SPD, andererseits hat er die Gesundheitsprämie erfunden, die zum Beispiel der CSU als viel zu neoliberal gilt.

Oder Wolfgang Franz, 60, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim: Auch auf ihn angewendet ist das Adjektiv "neoliberal" falsch, aber vielleicht nicht ganz so falsch wie bei den anderen. Franz profilierte sich durch Vorschläge für liberale Reformen des Arbeitsmarktes und für eine maßvolle Lohnpolitik.

Peter Bofinger von der Universität Würzburg sieht, obwohl gerade 50 geworden, immer noch aus wie ein Lausbub. Er ist auch einer, meinen viele seiner Kollegen, insofern jedenfalls, als er meistens das genaue Gegenteil dessen sagt, was die Mehrheit der Zunft denkt.

Bofinger war für den Euro, als die Mehrheit der deutschen Professoren dagegen war, er will, getreu der keynesianischen Tradition, die Nachfrage stärken, während es die Mehrheit der Ökonomen vor allem mit dem Angebot hält.

Und schließlich die Exotin Beatrice Weder di Mauro von der Universität Mainz; die in Guatemala aufgewachsene Ökonomin mit schweizerischem und italienischem Pass wurde erst im August in den Rat berufen, sie ist mit 39 Jahren die jüngste Weise, die es je gab, die erste Frau und die erste Ausländerin in dem Amt.

"Wir fünf wären ja freiwillig nie auf die Idee gekommen, ein Buch zusammen zu schreiben," sagt Wiegard, was der Beobachter sofort glaubt, wenn er die fünf in der Kantine sitzen sieht und außerdem weiß, was jeder einzelne vorher so alles geschrieben hat.

Eine Art Gruppentherapie

Und jetzt mussten sie sich auf rund 700 Seiten zusammenraufen, haben die " gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbareEntwicklung" analysiert und untersucht, "wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum gewährleistet sein können." So lautet der gesetzliche Auftrag.

Vielleicht ist es auch eine Art Gruppentherapie, auf jeden Fall aber eine Viecherei. Die "Kampagne", so nennt es Bert Rürup, beginnt im Januar mit einer eineinhalbtägigen Sitzung; da werden die Themen und Schwerpunkte festgelegt.

Die Sitzungen wiederholen sich monatlich bis Anfang September. Dann beginnt die heiße Phase: anfangs drei Sitzungstage in der Woche, dann fünf, sechs und schließlich ab Mitte Oktober sieben Tage. Nach außen ist dann Schweigen geboten. Keiner der Professoren darf bis zur Vorstellung des Gutachtens mit Journalisten reden, jedenfalls nicht über die Inhalte. Auch dieser Artikel kam nur unter dieser Bedingung zustande.

Solch ein Arbeitspensum fordert einen Preis. Weiser zu sein ist kein Vollzeit-Job; alle Sachverständigen behalten ihre Professuren, müssen aber notgedrungen ihren Ehrgeiz dort bremsen. "Man kommt von der Wissenschaft weg," sagt Wolfgang Wieghard.

Wer sich dem Sachverständigenrat mit vollem Engagement widmet, der kann im eigenen Fachgebiet keine Lorbeeren mehr ernten. Es geht um Politikberatung, nicht um Forschung.

Einem der interessantesten jungen Ökonomen in Deutschland, Professor Michael Burda von der Berliner Humboldt-Universität, war der Preis zu hoch; er lehnte deshalb kürzlich die Berufung in den Sachverständigenrat ab, der erste derartige Fall, der bekannt wurde.

Andererseits kommt man als Weiser viel leichter ins Fernsehen und in die Zeitung. Öffentlichkeit hat auch ihren Reiz. Ökonomen gelten ja gemeinhin als weltfremd, um nicht zu sagen: hartherzig. Ach nein, sagt Beatrice Weder. "Die meisten von uns haben doch Volkswirtschaft studiert, weil sie ein weiches Herz haben und die Welt verändern wollen."

Erhards Laus im Pelz

Abends, nach getaner Arbeit geht jeder der Weisen während der heißen Phase seine eigenen Wege. "Das Alleinsein braucht man als Ventil nach so einem Arbeitstag," sagt Wolfgang Franz. Beatrice Weder (Mainz) und Bernd Rürup (Darmstadt) sind Heimfahrer, Peter Bofinger hat sich ein Appartement in Wiesbaden gemietet.

Wolfgang Franz und Wolfgang Wieghard wohnen im denkmalgeschützten Familien-Hotel Klemm oberhalb der Wiesbadener Altstadt, wo schon unzählige Weise genächtigt haben. Und das hat dann doch wieder etwas von einer WG an sich. "Wir sind eine große Familie," sagt der Eigentümer Ian Lovell, ein Malteser, der das Hotel vor sechs Jahren gekauft hat, weil seine deutsche Frau auf Malta Heimweh bekommen hatte. Er lasse die Weisen abends in Ruhe, sagt er. "Die brauchen das."

Mag sein, dass auch die Übernachtung im Hotel Klemm zu jenen Ritualen und Gewohnheiten gehört, aus denen sich der partei- und denkschulenübergreifende Korpsgeist im Sachverständigen speist. Und dieser Korpsgeist macht seine Schlagkraft aus, findet Rürup.

Das Erstaunlichste ist dabei das hohe Maß an Kontinuität, seit das Gesetz über den Sachverständigenrat am 14. August 1963 verkündet wurde. Ludwig Erhard, der erste Bundeswirtschaftsminister, wollte damit vor allem die Gewerkschaften disziplinieren.

Es war die Zeit des Nachkriegsbooms und Erhard fürchtete damals, dass überzogene Lohnforderungen die Inflation anheizen könnten. Erhards Maßhalte-Appelle verhallten ungehört, jetzt hoffte er auf den Beistand eines unabhängigen Gremiums. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte für solche Unabhängigkeit wenig Verständnis. "Erhard, woll'n Se sich 'ne Laus in'n Pelz setzen?" soll er seinen ungeliebten Minister gefragt haben.

Die Kontinuität zeigt sich oft im scheinbar Nebensächlichen. Bert Rürup schaut zum Beispiel fast verträumt drein, wenn er anmerkt: "Ich bin der vierte Nachfolger von Giersch." Wegen des Berufungsverfahrens lässt sich bis heute eine genaue Genealogie der Weisen aufstellen: Wer folgte auf wen.

Herbert Giersch, der frühere Präsident des Kieler Weltwirtschaftsinstituts und einer der kreativsten deutschen Ökonomen, hat zwischen 1965 und 1969 den Rat wie kein anderer geprägt; die von ihm erdachte Gliederung der Gutachten gilt bis heute.

Peter Bofinger, der Lausbub, ist im übrigen auch Ausdruck dieser Kontinuität. Er saß schon einmal hier im zwölften Stock, von 1978 bis 1981 als Mitarbeiter des Stabes: "Ich hätte nie gedacht, dass ich das schwarze Linoleum hier noch einmal sehen würde."

Mit dem Marschallstab

Bofinger wäre im übrigen fast Bundesbankpräsident geworden, tatsächlich berief die Bundesregierung Axel Weber, einen ehemaligen Weisen und Vorgänger von Beatrice Weder.

Auch der wissenschaftliche Stab sorgt für Korpsgeist. Das Team von in der Regel acht Volkswirten hat einen hervorragenden Ruf; wer dort arbeitet, hat den Marschallstab im Tornister.

Der erste Generalsekretär Olaf Sievert wurde später selbst Weiser, einer seiner Nachfolger, Ernst-Moritz Lipp, brachte es bis in den Vorstand der Dresdner Bank, ein anderer, Michael Heise, wurde Chefvolkswirt der Allianz, dessen Nachfolger Michael Hüther leitet das Institut der deutschen Wirtschaft.

Insofern lohnt es sich, den heutigen Generalsekretär, den 35-jährigen Jens Ulbrich, im Auge zu behalten.

Und schließlich das Auswahlverfahren, bei dem die Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums eine zentrale Rolle spielt, eine Abteilung, die sich seit Erhards Zeiten als Hort ordnungspolitischen Denkens sieht.

Deren Leiter, zur Zeit heißt er Matthias Schürgers, legt die Vorschläge für Neuberufungen vor, Wirtschaftsminister und Kanzler entscheiden. Ein Weiser wird zudem seit jeher "im Benehmen" mit den Gewerkschaften bestellt, bei einem zweiten soll der Bundesverband der Deutschen Industrie zustimmen - eine Form von rheinischem Kungelkapitalismus, die den meisten Weisen heute suspekt ist, die aber ihrerseits für Kontinuität sorgt.

Der Weise der Gewerkschaften ist derzeit Peter Bofinger, der der Industrie Wolfgang Franz, wobei der vorher schon einmal im Rat war - als Kandidat der Gewerkschaften. Die entzogen ihm dann aber das Vertrauen - Oskar Lafontaine war Finanzminister - weil er ihnen in der Lohnpolitik zu arbeitgeberfreundlich geworden war.

Solch ein Verfahren ist zwar eine ständige Versuchung, wissenschaftlichen Beistand nach politischem Gusto auszuwählen. Wenn Politiker aber je dieser Versuchung nachgegeben haben sollten, dann sind sie damit nicht glücklich geworden.

Der Rat blieb Erhards Laus im Pelz. In den letzten Jahren der Ära Kohl zum Beispiel war das Verhältnis zwischen Regierung und Rat notorisch schlecht, wegen der Finanzpolitik. Unter Gerhard Schröder wurde turnusmäßig fast der gesamte Sachverständigenrat ausgetauscht. Aber man kann nicht sagen, dass der Rat linker geworden wäre, auch wenn zwei Mitglieder das SPD-Parteibuch besitzen.

Eher ist er wissenschaftlicher geworden. "Wir verkünden nicht mehr so viel mit dem Brustton der Überzeugung", sagt Wolfgang Wieghard. Dafür ist das Gutachten angereichert mit komplizierten statistischen und ökonometrischen Abhandlungen.

Das macht die Lektüre anstrengender, für Fachleute aber auch interessanter. Im übrigen ist die Formulierung für den Vorsitzenden immer eine Art Drahtseilakt. Einerseits soll das Gutachten ja einheitlich sein, sonst wirkt es nicht in der Öffentlichkeit. "Wenn man aber alle Gegensätze einebnet, wird es konturlos", sagt Wiegard.

Also gibt es die Einrichtung des Minderheitsvotums. So wäre es zum Beispiel schon ein Wunder, wenn Peter Bofinger, nach allem, was er in diesem Jahr publiziert hat, kein Minderheitsvotum zur Finanzpolitik vorlegen würde.

Wenn's durchsickert

Hoch ist der Qualitätsanspruch. In der Endphase der Arbeit treten neben dem wissenschaftlichen Stab auch noch so genannte Kapitelüberprüfer auf, Mitarbeiter des Statistischen Bundesamtes, die jede einzelne Zahl hinterfragen. "Das sind Leute, die sehr unangenehm werden können," sagt Bert Rürup. Aber mit einem eindeutigen Ergebnis: "Bisher hat es noch nie Zahlenfehler gegeben."

Wenn alles fertig ist, lesen sich die Weisen noch einmal das gesamte Gutachten laut vor. Am 12. November werden dann die ersten 600 Exemplare gedruckt, verpackt und mit einem Kleinlaster nach Berlin ins Bundeswirtschaftsministerium gefahren.

Sobald die Drucksache in der Ministerialbürokratie verteilt ist, beginnt der vorletzte Teil des jährlichen Rituals: der Wettlauf der Journalisten, wer als erster welche Teile des Gutachtens unter der Hand bekommt. Und schließlich die offizielle Übergabe beim Bundeskanzler und der Auftritt der fünf Weisen vor der Bundespressekonferenz.

Dabei haben die Professoren ein Wahrnehmungsproblem: Eigentlich interessierten sich die Journalisten dabei bisher immer für das am wenigsten Interessante, die Prognose des Wirtschaftswachstums im nächsten Jahr. "Ob wir nun 1,6 oder 1,8 Prozent sagen, das liegt an den Annahmen, da arbeiten wir auch nicht anders als die anderen", sagt Wiegard.

Trotzdem ist es dem Rat auf erstaunliche Weise gelungen, das Denken in der Bundesrepublik zu beeinflussen. Fast erscheint es so, als diffundiere das, was in der Professoren-WG im zwölften Stock gedacht wird, nach und nach in die Gesellschaft.

In den Sechzigerjahren machte der Rat die Deutschen mit dem Gedanken an flexible Wechselkurse und der nachfrageorientierten Konjunkturpolitik vertraut, in den Siebzigern leitete er die Wende zur Angebotspolitik ein.

Den Weisen ist es zu danken, dass die Deutsche Bundesbank als erste Notenbank der Welt die Geldmengensteuerung im Sinne des US- Nobelpreisträgers Milton Friedman einführte. Und die "Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum" aus dem Jahresgutachten 2002 lesen sich streckenweise wie eine Anleitung zur Agenda 2010 des Bundeskanzlers.

Jetzt weist Wolfgang Wiegard darauf hin, dass in der Wissenschaft "neokeynesianische Gedanken" wieder auf dem Vormarsch seien. Möglicherweise zeichnet sich da eine neue Wende im Erkenntnisprozess ab.

"Die Gutachten werden sicher nicht Schritt für Schritt abgearbeitet", sagt Matthias Schürgers aus dem Wirtschaftsministerium. "Aber irgendwie dringen die Gedanken in die Politik ein." Und man versteht Wolfgang Franz, wenn er sagt: "Wissen Sie, die Arbeit hier macht doch ganz einfach Spaß."

© SZ vom 16.09.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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