Deutsche Bank: Chefvolkswirt Walter:"Das habe ich in 64 Jahren nicht erlebt"

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Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, über die größte Zinssenkung der EZB-Geschichte, das Vorbild England, die nötigen Konjunkturprogramme - und seine heimliche Sympathie für Konsumgutscheine.

Tobias Dorfer

Seit 1992 ist Norbert Walter, geboren 1944, Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Zuvor war der Ökonom unter anderem am Kieler Institut für Weltwirtschaft beschäftigt, zwischen 2000 und 2002 war Walter außerdem Mitglied im Gremium der Sieben Weisen zur Regulierung der europäischen Wertpapiermärkte. Er beschäftigt sich vor allem mit Zinspolitik, Wechselkursen und Konjunkturfragen. Im Gespräch mit sueddeutsche.de begrüßt er die Entscheidung der EZB, den Leitzins radikal zu senken.

Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank begrüßt die Entscheidung der Europäischen Zentralbank. (Foto: Fotomontage: sueddeutsche.de)

sueddeutsche.de: Herr Walter, die Europäische Zentralbank hat heute den Leitzins um 75 Basispunkte auf 2,50 Prozent gesenkt - so stark, wie noch nie in ihrer Geschichte. Ist die Notenbank hysterisch geworden?

Norbert Walter: Wer bei dieser Entscheidung von Hysterie redet, verkennt den Ernst der Lage. Die Wirtschaftskrise ist global spürbar und die konjunkturelle Eintrübung ist massiv. Gleichzeitig ist auch die Inflation deutlich zurückgegangen. Alles spricht für eine deutliche Leitzinssenkung.

sueddeutsche.de: Trotzdem: Nicht einmal nach den Terroranschlägen von New York hat die EZB so drastisch reagiert.

Walter: Ich bleibe dabei: Eine so dramatische Situation wie heute habe ich in meinen 64 Jahren nicht erlebt. Der Schritt der Notenbank ist absolut gerechtfertigt.

sueddeutsche.de: Bereits zu Jahresbeginn, als noch von einer US-Hypothekenkrise die Rede war, hat die amerikanische Notenbank massiv an der Zinsschraube gedreht. Die EZB reagierte erst im Herbst. Hechelt sie nun der Fed hinterher?

Walter: Die Fed hat zu Beginn des Jahres weniger die Konjunktur, als vielmehr die Finanzmärkte im Blick gehabt. Sie wollte die Refinanzierung für die Kreditinstitute verbilligen und so die Geldmärkte stabilisieren. Auf außenstehende Betrachter, auch auf mich, mag das hektisch und unangemessen gewirkt haben. Rückwirkend betrachtet waren diese Maßnahmen jedoch richtig.

sueddeutsche.de: Warum ist die EZB nicht gefolgt?

Walter: Weil die Situation in Europa damals anders war. Der Ölpreis lag bei 150 Dollar, die Inflation war hoch. Mit der Pleite von Lehman Brothers hat sich jedoch auch die Lage in Europa schlagartig verändert. Niemand konnte voraussehen, welches Tempo und welche Schlagkraft diese Krise entwickeln würde.

sueddeutsche.de: Nun versucht die EZB gegenzusteuern. Folgt der Entscheidung heute bald schon eine weitere Zinssenkung?

Walter: Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, sehe ich Zinssätze von unter zwei Prozent.

sueddeutsche.de: Wie werden die Bürger die Leitzinssenkung spüren? Werden Kredite nun günstiger?

Walter: Erst einmal werden die Zinsen für Fest- und Tagesgeld relativ schnell sinken. Bei den Krediten sieht es anders aus. Ich glaube nicht, dass wir deutlich niedrigere Kreditzinsen bekommen werden.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum Norbert Walter die staatlichen Hilfsaktionen für die Finanzbranche richtig fand, zugleich aber Geldspritzen für die Autoindustrie ablehnt - und warum er eine Renaissance der Börse erwartet.

sueddeutsche.de: Niedrigere Zinsen für festverzinsliche Anlageformen machen für Sparer Aktien wieder attraktiv. Erleben wir als Folge der Leitzinssenkung womöglich eine Renaissance der Börse?

Walter: Wenn alles gutgeht, ja. Allerdings bin ich nicht sicher, ob wir die Talsohle schon erreicht haben. In Ländern wie Spanien und England sind die Immobilienmärkte noch auf voller Talfahrt. Gleichzeitig stehen Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften möglicherweise noch Notverkäufe bevor.

sueddeutsche.de: Eine Senkung des Leitzinses stützt nicht nur Aktienmärkte, auch die Banken kommen leichter an Geld von der Zentralbank. Aber verleihen sie das dann auch? Die Branche ist doch gezeichnet von einem riesigen Misstrauen.

Walter: In der Tat gab es in den vergangenen Jahren eine gewisse Blauäugigkeit bei der Kreditvergabe. Die wird derzeit revidiert. Für hohe Risiken werden auch hohe Zinsen verlangt.

sueddeutsche.de: Sind niedrigere Leitzinsen die richtige Medizin gegen diese Vertrauenskrise?

Walter: Sie können nur ein Schritt sein. Das Instrument der Zinspolitik ist für die Konjunkturstimulierung ziemlich stumpf. Aber wirkungslos ist es deshalb nicht. Wir dürfen nicht vergessen, die Zinsen sind niedriger als die Inflationsrate. Wer jetzt entscheiden muss, ob er das Geld ausgibt oder spart, der wird sich das genau überlegen.

sueddeutsche.de: Trotzdem ist es für viele Unternehmen schwer, Kredite zu bekommen. Und wenn, dann meist zu schlechten Konditionen. Muss hier nicht die Regierung stabilisierend eingreifen und für mögliche Ausfälle bürgen?

Walter: Es wäre fatal, wenn die Politik jetzt anfangen würde, Fluglinien oder Autokonzerne mit staatlichen Programmen zu retten.

sueddeutsche.de: Als es um die Finanzbranche ging, war der Staat als Retter gerne gesehen ...

Walter: ... und genau diese Tatsache macht jetzt bei der Autoindustrie das Neinsagen so schwer. Man muss es dennoch versuchen. Denn das Hilfspaket für die Banken diente ja nicht der Rettung bestimmter Institute oder gar irgendwelcher Bankdirektoren. Es ging darum, ein ganzes System vor dem Kollaps zu bewahren.

sueddeutsche.de: Wenn weitere "Schirme" der falsche Weg sind, soll der Staat den Kopf in den Sand stecken und hoffen, die Katastrophe möge schnell vorüberziehen?

Walter: Nein, die Politik muss jetzt die Konjunktur stützen.

sueddeutsche.de: Wie?

Walter: Ich plädiere dafür, den Engländern zu folgen. Wenn wir die Briten nachahmen würden, wären wir auf einem guten Weg.

Lesen Sie im dritten Teil, warum Norbert Walter die Mehrwertsteuer senken würde, die Einkommensteuer jedoch nicht - und warum er die Idee von Konsumgutscheinen gar nicht so schlecht findet.

sueddeutsche.de: Der britische Premierminister Gordon Brown hat gerade die Mehrwertsteuer zeitlich begrenzt von 17,5 auf 15 Prozent gesenkt.

Walter: Das scheint mir angemessen. Für Deutschland empfehle ich eine Senkung um drei Prozentpunkte - und zwar möglichst schnell.

sueddeutsche.de: Von 19 auf 16 Prozent - das würde die Verschuldung massiv in die Höhe treiben. Auch in Großbritannien stieß der Vorschlag auf Widerstand. Dort kritisierte die Opposition die Maßnahme als "Zeitbombe". Brauchen die Bürger nicht mehr Netto vom Brutto, also eine Senkung der Einkommensteuer?

Walter: Prinzipiell ja, aber um die Konjunktur kurzfristig zu stützen, taugt diese Maßnahme nicht. Denn das könnte dazu führen, dass die Sparquote weiter steigt. Viel besser ist der steuerliche Anreiz, jetzt einzukaufen. Die Deutschen ticken wunderbar. Wenn sie beim Einkaufen Steuern sparen können, dann konsumieren sie. Das war schon immer so.

sueddeutsche.de: Eine niedrigere Mehrwertsteuer spürt der normale Verbraucher doch vor allem dann, wenn er größere Dinge anschafft ...

Walter: ... und genau darauf kommt es an. Wenn wir versuchen, für die Bürger Kaufanreize für Butter und Milch zu geben, wird das die Konjunktur nicht retten. Auf Käufe von dauerhaften Konsumgütern und auf Investitionen kommt es an.

sueddeutsche.de: Dem vielzitierten kleinen Mann, der nicht über den Kauf eines Autos oder einer neuen Heizanlage nachdenkt, wäre möglicherweise mit einem Konsumgutschein besser geholfen. SPD-Politiker Karl Lauterbach will jedem Deutschen 500 Euro geben. Was halten Sie davon?

Walter: Ich finde die Idee gar nicht so schlecht. Ökonomisch ist das ähnlich wirkungsvoll wie eine Senkung der Mehrwertsteuer. Diese Gutscheine haben jedoch einen psychologischen Nachteil: Sie entwürdigen Menschen.

sueddeutsche.de: Für 500 Euro lassen sich viele Bundesbürger bestimmt gerne entwürdigen.

Walter: Ich bleibe dabei: Es ist für Bürger entwürdigend, wenn der Staat, der den Leuten das Geld aus der Tasche zieht, plötzlich in Spendierhosen daherkommt. Und dann muss auch noch belegt werden, was mit dem Geld gekauft wird. So werden die Bürger entmündigt. Die Politiker sollten darüber nachdenken, was für Wesen sie vor sich haben.

sueddeutsche.de: Die Senkung der Mehrwertsteuer und auch die Konsumgutscheine sind kurzfristige Maßnahmen. Bleibt die Frage nach der Wirkung. Wo sehen Sie die deutsche Wirtschaft im Jahr 2009?

Walter: Es macht keinen Sinn, konkrete Zahlen zu nennen. Im günstigsten Szenario werden wir im kommenden Jahr ein Nullwachstum haben. Wir können am Ende aber auch bei minus vier Prozent landen. Mit einer so großen Spanne muss man sich auseinandersetzen, um für dieses schwierige Jahr gewappnet zu sein.

sueddeutsche.de: Wann haben wir die Krise überstanden?

Walter: Ich nehme an, 2011 oder 2012 werden wir es gepackt haben. Wenn die Amerikaner wieder Boden unter den Füßen haben, dann sieht auch bei uns die Situation wieder besser aus.

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