Billigtherapie:Darm-Medikamente für Augenkranke

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Mehrere Krankenkassen halten Ärzte dazu an, das Darmkrebspräparat Avastin an Patienten mit Augenleiden zu verabreichen. Weil es billiger ist als ein Augenheilmittel.

Melanie Ahlemeier

Die Altersabhängige Makula-Degeneration, kurz AMD genannt, ist in Deutschland mit 50 Prozent die häufigste Ursache für eine schwere Sehbehinderung. Dem Berufsverband der Augenärzte zufolge erblinden pro Jahr rund 5000 Menschen in Folge dieser Krankheit, laut Weltgesundheitsorganisation werden jährlich 50.000 neue AMD-Patienten gezählt.

Das Medikament Avastin - hier ein Einblick in die Produktion - wird im Kampf gegen Darmkrebs eingesetzt. (Foto: Foto: AP)

Für viele Betroffene entwickelte sich das noch junge und vom Pharmakonzern Novartis produzierte Medikament Lucentis zum Hoffnungsträger. Seit Januar dieses Jahres ist es erhältlich. Doch nun gehen Krankenkassen dazu über, statt dem in der Einzeldosis mehr als 1500 Euro teuren Präparat Lucentis das Medikament Avastin aus dem Hause Roche zu verabreichen.

50 Euro anstatt 1500 Euro je Einzeldosis

Denn das ist deutlich billiger: Gerade mal 50 Euro muss eine Krankenkasse für eine Einzeldosis Avastin löhnen. Allerdings handelt es sich bei Avastin nicht um ein Augenmedikament, sondern um ein Darmkrebsmittel. Zur Behandlung der Augenkrankheit AMD ist es nicht zugelassen. Etliche Patienten, die um ihr Augenlicht kämpfen, stimmten einer Augen-Spritzbehandlung mit dem Krebsmedikament allerdings auf eigenes Risiko zu. Avastin und Lucentis verfügen über eine ähnliche Molekülbauart.

Das Bundesversicherungsamt als zuständige Rechtsaufsichtsbehörde billigt die gängige Praxis der Krankenkassen. Die Behörde tendiere dazu, "bei einer Kostenübernahme für Avastin sowie entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen der Krankenkassen aufsichtsrechtlich nicht einzugreifen", zitierte die Financial Times Deutschland am Freitag aus einem Behördenschreiben von Anfang August.

Entscheidung noch offen

"Es gibt noch Klärungsbedarf", sagte Hartmut Beckschäfer, Abteilungsleiter Krankenversicherung beim Bundesversicherungsamt, zu sueddeutsche.de. Die entsprechenden Ministerien der Bundesländer seien um Stellungnahme gebeten worden. Bis eine Entscheidung fällt, wird es noch Wochen dauern. Mit einer Förderung des billigeren Medikaments sind bisher die Barmer Ersatzkasse, die DAK Dortmund und die Innungskrankenkasse Nordrhein aufgefallen.

Das deutsche Gesundheitssystem und dessen Therapiefreiheit ermöglicht Medizinern das sogenannte Off-Label-Use, sprich Medikamente können - mit der Unterschrift des Patienten - auch gegen Krankheiten eingesetzt werden, für die sie zunächst gar nicht vorgesehen waren.

Bis ein Medikament freigegeben wird, dauert es in Deutschland oft Jahre: Zu teuer, zu langwierig lautet daher auch immer wieder die Kritik. Für die insgesamt vier Prüfungsstufen inklusive klinischer Studien zahlen die Pharmakonzerne Millionen. Nicht ohne Grund: Allein für den Hoffnungsträger Lucentis kalkuliert der Pharmakonzern Novartis bei jährlich 50.000 Neuerkrankungen mit mindestens 700 Millionen Euro Umsatz - pro Jahr.

Nichts vom Deal gewusst

Ehe ein bislang zur Darmkrebsbehandlung eingesetztes Medikament im Kampf gegen die Erblindung eingesetzt werde, sollten klinische Daten vorliegen, um unerwünschte Nebenwirkungen auszuschließen, sagte die Sprecherin der Arzneimittelaufsichtsbehörde Paul-Ehrlich-Institut, Susanne Stücker, zu sueddeutsche.de.

Das Vorgehen der drei Krankenkassen sei bislang nicht bekannt gewesen. "Wir wussten nichts von einem Deal."

Auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband ist erbost. "Dieser Fall ist einzigartig", sagte Verbandssprecher Volker Lenk. Die Patienten seien wieder einmal die Leidtragenden.

Für den Augenarzt Georg Eckert, Sprecher des Berufsverbandes der Augenärzte in Deutschland, ist das Vorgehen der Kassen typisch. "Der Patient kann es nicht bezahlen, die Kasse will es nicht bezahlen", sagte er.

Würde Avastin auch als Augenmedikament in einem jahrelangen Verfahren geprüft, "wäre es genauso teuer wie Lucentis". Zwar müsse der Patient einer Behandlung mit Avastin schriftlich zustimmen, das Risiko trage allerdings der behandelnde Arzt. Eckert: "Das Haftungsrisiko hat der, der spritzt."

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