Besuch bei einem Binnenschiffer:Millimeterarbeit auf 380 Kilometern

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"Lange Liegezeiten kann sich heute keiner mehr leisten": Der 100 Jahre alte Mittellandkanal ist ein wichtiger Wirtschaftsweg geworden, doch von der Globalisierung profitiert er bisher kaum - trotz seiner guten Ökobilanz.

Arne Boecker

Die Probleme, die der gemütliche, manchmal bärbeißige Binnenschiffer Jakob Wilde zu lösen hatte, waren überschaubar. Mal drohte der teure Motor kaputtzugehen, mal gab es Zoff mit der Konkurrenz, mal musste innerhalb der Familie Herzeleid geheilt werden.

Alles in allem war das Leben jedoch ein langer, ruhiger Fluß. Der hieß in diesem Fall Rhein, das Binnenschiff war die "MS Franziska". So nannte die ARD auch die Serie, die sie von 1978 an mit großem Erfolg am Montagabend sendete.

Jakob Wilde, den brummbärigen Binnenschiffer mit der speckigen Mütze auf dem Kopf, gab seinerzeit Paul Dahlke. Es ist unwahrscheinlich, dass der Schauspieler in all den Jahren, in denen er als Jakob Wilde über Flüsse und Kanäle schipperte, jemals das Wort "Globalisierung" in seinem Textbuch fand.·

Reinhard Wendlandt geht die Vokabel dagegen locker über die Lippen, genau wie "Wettbewerbsvorteil" oder "EU-Osterweiterung". Wendlandt ist Binnenschiffer wie Jakob Wilde alias Paul Dahlke.

Aber nicht im Fernsehen, sondern im richtigen Leben, und nicht 1978, sondern 2006. Was das bedeutet, erklärt Jörg Rusche, Geschäftsführer im Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt (BDB): "Unsere Leute müssen heute das Kaufmännische viel stärker im Blick haben, außerdem haben sie sicher weniger Freizeit als früher."

Wichtiger Wirtschaftsweg

Reinhard Wendlandt hat seine "MS Phönix" gerade an der Spundwand festgemacht, kurz hinter der Hindenburgschleuse in Hannover-Anderten, ziemlich genau in der Mitte des Mittellandkanals. Die Schleuser brauchen etwa 20 Minuten, um die Schiffe, die von Osten nach Westen fahren, in die Tiefe zu befördern.

Hinterher ist Zeit für ein Päuschen. Reinhard Wendtland zeigt durch das Fenster des Ruderhauses auf das Vorschiff. "Da liegen 850 Tonnen Aluminiumoxid, die haben wir in Stade aufgenommen und bringen sie jetzt nach Neuss."

Das Zeug, das "wohl in die Pharmazie" gehe, erinnere von fern an Schnee, sagt Wendlandt. Zu sehen sind jetzt nur graue Abdeckungen, die die Fracht vor Wind und Regen schützen.

100 Jahre nach dem Baubeginn ist der Mittellandkanal zu einem wichtigen Wirtschaftsweg geworden. In Norddeutschland ist er die einzige schiffbare West-Ost-Verbindung, sein Gegenstück im Süden heißt Rhein-Main-Donau-Kanal.

Im Westen zweigt der Mittellandkanal in Bergeshövede vom Dortmund-Ems-Kanal ab, der wiederum über weitere Kanäle zum Rhein führt. Im Osten trifft er nahe Magdeburg auf die Elbe; von hier aus geht es nach Berlin und Osteuropa.

Vom Mittellandkanal gehen außerdem Weser und Leine, der Elbe-Seiten-Kanal nach Hamburg sowie drei Stichkanäle ab, die Osnabrück, Hildesheim und Salzgitter andocken.

Obwohl die deutsche Binnenschifffahrt ein paar gute Argumente für sich vorbringen kann, verfügt sie über freie Kapazitäten. Der Verkehr auf den Kanälen und Flüssen profitiert noch kaum von dem Logistik-Boom, den Globalisierung und EU-Osterweiterung ausgelöst haben.

Wie auf Binnenschiffen üblich, ist auch im Ruderhaus von Reinhard Wendlandt der Sessel das wichtigste Möbelstück. Bis zu 14 Stunden am Stück sitzt der 57-Jährige auf dem hohen Thron, den Armlehnen und Fußstützen recht bequem machen.

Ein ausladendes, hölzernes Steuerrad sucht man hier vergeblich. Der Kapitän lenkt sein Schiff, indem er mit dem Zeigefinger leicht gegen einen Joystick tippt. Das ist Millimeterarbeit in einem Kanal, in dem bei Begegnungen manchmal nicht viel Platz ist.

"Ich fahre schon seit 1964", sagt der aus Eisenhüttenstadt stammende Wendlandt, "habe als Matrose angefangen." Heute macht seine Frau Ruth den Matrosen. Die Wendlandts leben auf dem Schiff, ihre Wohnung haben sie komplett aufgegeben.

"Immer der Ärger mit der Post!", winkt Reinhard Wendlandt ab. "Und wer soll denn bitte den Winterdienst für den Bürgersteig übernehmen, wenn wir nicht da sind?" Selbst in seinem Personalausweis steht unter Wohnort: "MS Phönix".

1993 hatte Wendlandt die "MS Phönix" für 150 000 Mark von der Treuhand gekauft. Seitdem ist er selbstständiger Schiffsführer, "Partikulierer" heißt das unter Binnenschiffern.

"67 Meter lang, 8,20 breit, 2,50 hoch", rattert Wendlandt die Daten seines schwimmenden Arbeitsplatzes herunter. 420 PS dirigiert er durch den Kanal. Wenn das Schiff beladen ist, darf er zehn, wenn es leer fährt, zwölf Kilometer pro Stunde schnell sein. Reinhard Wendlandt fährt zusammen mit 35 Kollegen für die "Imperial Reederei" aus Duisburg, die aus dem großen Haniel-Konzern hervorgegangen ist.

Der Mittellandkanal ist ein Jahrhundert alt, aber die Planung reicht zurück bis in das Jahr 1877. Seinerzeit legte Preußens Regierung eine Denkschrift vor, die den Bau eines "Rhein-Weser-Elbe-Kanals" zum Gegenstand hatte.

Aber erst am 1. April 1905 wurde der Bau des Mittellandkanals beschlossen. Allerdings in einer Sparversion: Der Kanal reichte nur vom Rhein bis nach Hannover. Die zweite Hälfte, von Hannover bis Magdeburg, wurde erst 1938 fertig gestellt.

Alle Stich- und Verbindungskanäle eingerechnet, ist der heutige Mittellandkanal 380 Kilometer lang. Er hat viele Betriebe angezogen, wie das Beispiel Niedersachsen zeigt.

"Ein Viertel aller Industriebetriebe und die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze liegen am Mittellandkanal und den Stichkanälen", sagt Wirtschaftsminister Walter Hirche. In Hannover residieren zum Beispiel Volkswagen und Continental am Kanalufer.·

Zwei Wochen Urlaub, mehr ist nicht drin

Wenn Reinhard Wendtland mit der "MS Phönix" über die Kanäle und Flüsse dieselt, muss er genau planen, wann er wo welche Fracht auf- oder abladen kann. "Lange Liegezeiten", sagt Wendtland und macht dabei ein Gesicht, als habe er auf eine Zitrone gebissen, "lange Liegezeiten kann sich heute keiner mehr leisten."

Zwei Wochen Urlaub pro Jahr sind drin, dazu ein paar Tage über Weihnachten, um die Töchter zu besuchen. Immer noch machen Massengüter den größten Teil der Fracht aus, die Binnenschiffer aufnehmen und abladen. Sie lassen sich in vier Gruppen einteilen: Erde/Stein/Baustoff, Erdöl/Mineralöl, Erz/Schrott und Kohle.·

"Die da machen mir Sorgen", sagt der Binnenschiffer und zeigt mit dem Daumen auf die Kanalmitte. Dort zieht die "Szeczin" vorbei, die randvoll beladen ist mit rostigem Schrott.

In ihrem Schlepptau schwimmt mit geschlossenen Ladeluken die "Bydgosz". Beide tragen ein PL für Polen unter ihren Namen. "Die Kollegen fahren bei den Reedereien für 250 Euro im Monat", sagt Wendlandt. Viele Ältere seien darunter, die ihre Rente aufbessern müssten.

Offizielle Angaben des Verbandes nehmen den Befürchtungen des Kapitäns aber ein wenig die Schärfe. Bislang haben Polen und Tschechen nur zwei Prozent der innerdeutschen Fracht für sich abgeknapst.·

Verbandschef Rusche möchte die EU-Osterweiterung eigentlich eher als Chance verstanden wissen. "Das Potenzial ist groß, das es hier auszuschöpfen gilt." Doch die Belebung des Geschäfts ist bislang ausgeblieben.

"Ganz grob kann man sagen, dass die Straße von den wachsenden Verkehrsströmen profitiert, während die Bahn verliert und die Binnenschifffahrtswege stagnieren", sagt Rusche. Um mehr Verkehr zu generieren, wurde der Mittellandkanal ausgebaut. Jetzt erfüllt er die "Europaschiff"-Norm, die eine Tragfähigkeit von 1350 Tonnen vorschreibt.

Ein Indiz für die gewachsene Bedeutung Osteuropas ist heute schon mit bloßem Auge zu erkennen, wenn man nur lang genug von einer der Mittellandkanal-Brücken schaut. Die Hauptverkehrsrichtung hat sich in den vergangenen Jahren umgedreht: Sie führt jetzt vom Osten in den Westen.

237 Millionen Tonnen betrug 2005 das Verkehrsaufkommen auf deutschen Flüssen und Kanälen, das meiste ging über den Rhein. Zum Vergleich: Die Bahn schaffte 317 Millionen Tonnen, die Straße liegt mit 1,15 Milliarden Tonnen weit vorn.

Das Problem der Binnenschiffer ist, dass man Autobahn und Schienenstrang schneller in die Landschaft legt als einen Kanal. Auf Jahrzehnte gesehen hecheln die Kanalbauer der Wirtschaft deshalb eigentlich immer hinterher.

Ohnehin weist das Wasserwege-Netz recht grobe Maschen auf. Die Flüsse und Kanäle, die Binnenschiffe befahren können, sind gerade mal 7500 Kilometer lang. Dagegen liegen in Deutschland 35 000 Kilometer Schienen.

Zuverlässiger als LKW

"In der Ökobilanz", sagt Binnenschiff-Lobbyist Rusche, "macht uns keiner was vor." Ein modernes Binnenschiff ersetzt mehr als 100 Lkw - und verbraucht nur ein Drittel von deren Sprit.

Eigentlich ist das Binnenschiff auch zuverlässiger als die stau- und unfallanfälligen Laster -wenn es nicht Vorfälle gäbe wie im vergangenen Jahr, als der Dortmund-Ems-Kanal zweimal auslief.

Sorgen bereitet zudem der Eisgang, nicht zuletzt die Partikulierer leiden unter strengen Wintern. "Letztes Jahr im Februar waren wir drei Wochen lang eingefroren", erzählt Wendlandt. "Gerade Anfang des Jahres, wenn die Rechnungen reinkommen, ist das nicht lustig."·

Dass die Konkurrenz schärfer geworden ist auf den Flüssen und Kanälen, kann Reinhard Wendlandt an einem simplen Beispiel erläutern. "Anfang der neunziger Jahre gab"s für die Tonne Kohle, die ich aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gebracht habe, noch 16 Mark, heute liegt der Preis bei..." - Wendlandt macht eine Kunstpause - "...gerade mal viereinhalb Euro."

Die Binnenschifffahrt versucht sich auf die neue Zeit einzustellen. Die Häfen werden so angelegt, dass sie "Kombi-Verkehr" erleichtern. Im Klartext: Kräne hieven die Fracht vom Wasser gleich auf Schiene oder Straße. Auch vom Container-Boom wollen die Binnenschiffer sich unbedingt eine Scheibe abschneiden. Der Mittellandkanal-Hafen Braunschweig beweist, dass das keine Utopie ist. Die Zahl der hier umgeschlagenen Container verfünffachte sich in den vergangenen fünf Jahren.·

Kantige Blechkisten wird die "MS Phönix" allerdings nicht mehr von Ost nach West und West nach Ost schleppen· müssen. Wendlandt hat sich "noch nicht so recht überlegt", wie er mal leben will, wenn es zu anstrengend wird, die Flüsse und Kanäle zu befahren.

Man merkt dem Mann an, dass ihm der Gedanke daran nicht angenehm ist. Seit mehr als vier Jahrzehnten lebt er jetzt auf dem Wasser. "Wird sich schon was finden", sagt er. Wichtig ist jetzt erst einmal das nächste Stück Mittellandkanal. Und nach Neuss sind es noch etwa zweimal 14 Stunden.·

© SZ vom 7.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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