Bermuda:Das Paradies der anderen

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Die Atlantikinsel Bermuda ist vor allem für Steuervermeidung von Großkonzernen bekannt. Doch was öffentlichen Kassen weltweit schadet, produziert auch eine Katastrophe vor Ort.

Von Petra Blum

Renee Dill macht nach einem langen Tag Pause in einem Park am Hafen. Auf dem Wasser schaukeln luxuriöse Motoryachten. Sie selbst ist arm. (Foto: Marq Rodriguez)

Wenn Angeline Pitt am Strand namens Nine Beaches auf Bermuda entlanggeht, kommen ihr dramatische Erinnerungen. Vor wenigen Wochen noch war ihr der karibisch anmutende Ort mit fast türkisblauem Wasser, feinkörnigem Sand und schattigen Palmen der letzte Zufluchtsort, an dem sie ihr Auto abstellte. Das Fahrzeug war alles, was sie noch hatte. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie ihr Haus verloren, das Auto wurde ihr einziges Dach über dem Kopf, in dem sie Tag und Nacht verbrachte. Sie wusch sich in öffentlichen Toiletten und kaufte nur trockene Lebensmittel, die in Bermudas subtropischer Hitze nicht sofort verderben. Ihre persönlichen Gegenstände brachte sie im Kofferraum unter.

Ihren Job als Kellnerin hätte die 49-Jährige während dieser Zeit fast verloren. "Ich kam oft zu spät zur Arbeit, weil ich die ganze Nacht nur geweint habe", erzählt sie. "Ich lebte von der Hand in den Mund, auch wenn ich keine Miete zu zahlen hatte, reichte es gerade mal für Lebensmittel und das Auto." Angeline ist mit ihrem Schicksal nicht allein auf Bermuda, wo es für Menschen wie sie ein eigenes Wort gibt: Die "working poor", also die "arbeitenden Armen" sind Einheimische, die trotz Vollzeitjob nicht einmal mehr das Nötigste haben. Ihre Zahl wächst ständig.

"Inzwischen ist Obdachlosigkeit eine nationale Krise geworden", sagt Elaine Butterfield vom "Woman Ressource Center" auf Bermuda, einer Wohltätigkeitsorganisation: "Wir sind hier schon lange nicht mehr im Paradies." Doch obwohl die Katastrophe längst offensichtlich ist, wird sie gegenüber der Öffentlichkeit oft immer noch totgeschwiegen - aus Scham.

Zehn Dollar für ein Netz Orangen oder sieben Dollar für einen Laib Brot - das ist der Alltag

In Deutschland macht die kleine Atlantikinsel bisher hauptsächlich durch ein Thema Schlagzeilen: Steuervermeidung in industriellem Ausmaß, zu Tage gefördert vor allem durch ein riesiges Datenleck der auf Bermuda ansässigen Anwaltskanzlei Appleby, das die Süddeutsche Zeitung erhalten und zusammen mit Hunderten Journalisten weltweit ausgewertet hatte. Dank dieser Paradise Papers kamen nicht nur missbräuchliche Steuerpraktiken ans Licht, sondern auch Geldwäsche, Korruption und andere Machenschaften, bei denen die Anwälte aus dem Steuerparadies Bermuda eine Rolle gespielt hatten. Von der grassierenden Armut vor Ort war jedoch kaum die Rede. Wie alle anderen Steueroasen auf der Welt war Bermuda vor allem eines: eine Bastion des Schweigens. Inzwischen offenbart sich eine Katastrophe vor Ort, die dramatischer kaum sein könnte.

Auch Angeline Pitt zählt zu den "working poor" auf Bermuda, Menschen, die trotz Arbeit arm sind. Sie ist mit ihrem Schicksal nicht allein. (Foto: Marq Rodriguez)

Da der Staat in Bermuda weder ausländische Konzerne noch privaten Reichtum besteuert, muss das Geld anderswo herkommen. Die einheimische Bevölkerung leistet einen Großteil der Steuereinnahmen des Staates. Alles auf die Insel muss importiert werden, und die Importsteuer ist hoch, deshalb hat Bermuda weltweit mit die höchsten Lebensmittelpreise. Zehn Dollar für ein Netz Orangen oder sieben Dollar für einen Laib Brot sind inzwischen üblich in Supermärkten auf der Insel. Dazu kommen eine Lohnsteuer und hohe Sozialabgaben, wovon ein Großteil von den Arbeitnehmern getragen werden muss. "Wir sind inzwischen das teuerste Land der Erde", sagt Robert Stubbs, ein Volkswirt auf Bermuda, der sich intensiv mit der wirtschaftlichen Lage des Landes auseinandergesetzt hat. Laut seiner Schätzung kommt mehr als die Hälfte der einheimischen Bevölkerung nur noch gerade so über die Runden oder ist bereits extremer Armut wie Hunger oder Obdachlosigkeit ausgesetzt.

Renee Dill macht nach ihrem Acht-Stunden-Arbeitstag Pause in einem nahegelegenen Park, vor der Kulisse eines kleinen Hafens mit luxuriösen Motorbooten und Yachten. Sie erzählt von ihrem Vollzeitjob als Hotelangestellte: Sie arbeitet für sieben Dollar netto die Stunde in einem Hotel, mit Zulagen bringt sie es manchmal auf 300 Dollar Lohn pro Woche. Sie ist immer auf Spenden oder die Hilfe von Wohltätigkeitsorganisationen angewiesen, denn ihre Miete von 1750 Dollar schafft sie kaum, selbst zu bezahlen. "Ich stehe immer vor der Wahl: Gebe ich meinen Kindern zu essen oder bezahle ich die Stromrechnung oder die Miete? Es reicht nie für alles." Als sie einmal keine Krankenversicherung hatte und ihre Arztrechnungen nicht zahlen konnte, landete sie wie alle säumigen Schuldner auf Bermuda vor Gericht und gleich anschließend im Frauengefängnis. "Ich wurde zehn Tage weggesperrt", erzählt sie. "Es gab keine Gnade."

Auf Bermuda wird das "Debtors Prison", also "Gefängnisstrafe für Schuldner" genannt. Im Frauengefängnis traf Renee viele andere Mütter, die eine Strom- oder Arztrechnung nicht mehr zahlen konnten. Besonders bitter: Auch nach verbüßter Strafe werden die Schulden nicht erlassen - ein Teufelskreis, auch für Renee. Sie war eine Weile obdachlos, hatte es schwer, nach der Haft einen Job zu finden.

Inzwischen häufen sich wieder Arztrechnungen bei ihr, da die Krankenversicherung nicht immer alles abdeckt. "Ich habe Angst, dass ich wieder ins Gefängnis muss und meinen Job verliere", sagt sie. Resignation mischt sich in ihre Stimme. "Auf Bermuda ist kein Platz mehr für uns Einheimische." Sie deutet mit der Hand auf die Luxusyachten hinter sich "Für reichen Leute, für die ist Bermuda", sagt sie. Dann steht sie auf, es ist 17 Uhr, sie muss wieder los. "Wenn du eine Weile auf der Straße gelebt hast, lernst du, die Zeit am Sonnenstand abzulesen."

Die Zufluchtsorte von Obdachlosen und der atemberaubende Reichtum, den die Insel mit ihrer Nullsteuerstrategie magnetisch anzieht - beide Welten liegen dicht bei dicht, nur wenige Gehminuten voneinander entfernt. Im Geschäftsviertel der Hauptstadt Hamilton sind zahllose Banker, Berater und Anwälte nur damit beschäftigt, den Reichtum zu verwalten, der in Briefkastenfirmen und Trust unbesteuert und oft unentdeckt von der Öffentlichkeit vor sich hin wächst. "Millionen und Abermillionen von Dollar sind hier auf der Insel, aber wir lassen unsere eigenen Leute vor die Hunde gehen, Familien auf der Straße landen", sagt Sheelagh Cooper von der Wohltätigkeitsorganisation "Habitat for Humanity", die sich um Menschen wie Renee kümmert. "Unglücklicherweise ist die Regierung nicht in der Lage zu helfen, denn sie hat kein Geld."

Die Regierung wiederum streitet das Problem nicht ab - erstmals spricht sogar der Premierminister David Burt mit der ausländischen Presse über die soziale und ökonomische Situation seines Landes. Er skizziert eine Wirtschaft in Bermuda, die durch jahrelange Rezession, Arbeitslosigkeit und steigende Preise völlig am Boden ist. "Es ist schon eine komische Sache", sagt er mit Blick auf die Preise auf Bermuda. "Wir haben so viele internationale Unternehmen hier. Sie bezahlen Mietzuschüsse für ihre Angestellten, das können mehrere Tausend Dollar sein. Die Einheimischen dagegen bekommen keine Mietzuschüsse. Das treibt die Mieten, und die Lebenshaltungskosten im ganzen Land." Anwaltskanzleien, Wirtschaftsprüfer und andere Finanzdienstleister holen Personal von außerhalb. Selten arbeiten Einheimische im Finanzsektor auf Bermuda, der auf der winzigen Insel zu einer beachtlichen Größe angewachsen ist. Wohnraum ist knapp, Mieten bis zu 10 000 Dollar im Monat für drei, vier Zimmer sind keine Seltenheit mehr.

Vor allem ein Zweig der Finanzwirtschaft fühlt sich im Steuerparadies Bermuda besonders wohl: Versicherer und Rückversicherer, prominent vertreten sind auch deutsche Dax- und M-Dax-Konzerne. Die Hannover Rück hat rund 30 eigene Angestellte auf der Insel, die Munich Re betreibt zwei Tochtergesellschaften, die von Anwälten betreut werden. Die Deutsche Post ist stolz auf ihre wirtschaftlich erfolgreiche konzerneigene Versicherung auf Bermuda, hat aber ebenfalls keine eigenen Angestellten dort. Allein die Hannover Rück teilt in einer ausführlichen Stellungnahme mit, dass man sich durchaus über die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen vor Ort Gedanken mache, und sich durch Spenden und andere wohltätigen Engagements bemühe, etwas vor Ort gegen die Not zu tun. Bei der Deutschen Post heißt es dazu lapidar, es sei Sache der Regierung, sich um die Bevölkerung vor Ort zu kümmern. Die Munich Re antwortet nicht auf konkrete Fragen. Alle drei beteuern, man nehme auf Bermuda keine Steuervorteile in Anspruch.

Der Premierminister verspricht den Neubau von Wohnungen und Steuererleichterungen

"Dieses ganze System hat die Reichen reicher gemacht, und nur dafür ist es zugeschnitten", sagt Cheryl Peckwood, die früher Bermuda als internationalen Finanzplatz in aller Welt vermarktet hat. Heute sieht sie das kritisch. "Wir Bermuder dachten, der internationale Finanzsektor wäre etwas Großartiges für uns. Aber in Wirklichkeit war es das gar nicht. Es hat der einheimischen Bevölkerung überhaupt nichts gebracht, im Gegenteil."

Premierminister Burt verspricht den Neubau von Wohnungen in der Hauptstadt und Steuererleichterungen für die Einheimischen. Doch viele seiner Wähler sind kaum überzeugt, dass das ausreicht, um ihre Nöte zu lindern. Schon seit Längerem hat eine Auswanderungswelle eingesetzt: Einwohner flüchten vor der Armut und der Wirtschaftskrise auf ihrer Insel - so auch Mike Levon, der inzwischen als Chefkoch in einem Berliner Restaurant arbeitet. "In Bermuda konnte ich einfach nicht mehr leben", sagt er. "Mir geht es in Deutschland viel besser. Als ich Bermuda verlassen habe, wusste ich: Ich komme ganz lange nicht mehr zurück."

© SZ vom 20.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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