beraten & verkauft (II):McKinsey und der Gorilla

Lesezeit: 13 min

Warum die Manager von morgen Deutschland heute "shocking" finden und wie man Führungsqualitäten entdeckt. Ein Erfahrungsbericht über eine Begegnung mit McKinsey.

Im Folgenden geben wir einen Auszug aus dem neu erschienenen Buch "beraten & verkauft" wieder, das derzeit zu den meistverkauften Sachbüchern zählt.

beraten & verkauft - McKinsey & Co - der große Bluff der Unternehmensberater Verlag C. Bertels- mann, 2006, 448 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 3-570-00925-4 (Foto: N/A)

Der Autor Thomas Leif nähert sich darin einer unnahbaren Branche an: Den Unternehmensberatern. Bestandteil des Buches ist auch ein Erfahrungsbericht von Julia Friedrichs über den Recruiting-Prozess bei McKinsey, den Sie hier im Rahmen einer kleinen Serie bei sueddeutsche.de nachlesen können.

Was bisher geschah: Julia Friedrichs, seinerzeit Journalistik-Studentin, wird 2005 von McKinsey zur EuroAcademy nach Griechenland eingeladen. Dort sammelt sie erste Eindrücke von der Welt der Berater. Und die von ihr.

Tag zwei: "Leadership is about seeing the gorilla"

Die Nacht im Luxusbungalow ist kurz. Viel zu früh geht es weiter: "Good morning", schreit Hauke.

"Good morning everybody!" Gerade lief wieder Carmina Burana. Wieder sind wir einmarschiert, vorbei an den Flaggen. Das Akademieprogramm beginnt. Neben Pat Cox sitzt Niall Ferguson auf dem Podium.

Er lehrt in Harvard, seine Bücher zur europäischen Geschichte sind Bestseller. "Ich komme gerade aus Asien. Der beste Platz, um über Europa nachzudenken", findet die Moderatorin Diana Farrel.

Niall - hier nennen sich alle beim Vornamen - sieht das genauso. Er findet, dass die Europäer viel zu wenig arbeiten. Vor allem auf die Franzosen hat er es abgesehen: Sie essen stundenlang zu Mittag, sie machen wochenlang Ferien und gehen viel zu früh in Rente.

"Dafür kann man sich entscheiden", meint Niall. "Aber wer sich dafür entscheidet, lange zu Mittag zu essen, verzichtet auf Macht", erklärt er uns.

Während die Franzosen ihren Lunch in Paris genössen, würde die chinesische Wirtschaft ständig wachsen.

Die Gehirnwäsche beginnt, denke ich. Radovan Jelasic kritisiert an den alten, den europäischen Kernökonomien vor allem deren Langsamkeit.

Er ist Präsident der Serbischen Nationalbank und erzählt, dass sich die osteuropäischen Staaten in atemberaubendem Tempo reformieren würden.

"Die schaffen neunzig Gesetze in ein paar Monaten", meint er. "In Deutschland diskutieren sie dagegen zehn Jahre, ohne dass etwas passiert." Es mangele den europäischen Kernstaaten an Visionen und an Leadern, findet die Runde.

Und als sei das nicht schon deprimierend genug, komme mit der Überalterung eine richtige Katastrophe auf Europa zu, ergänzt Pat Cox. Er blickt jetzt staatsmännisch sorgenvoll in die Runde und erklärt uns, wie wir wirklich etwas für Europa tun können: "Have fun and have babies."

Während alle lachen und klatschen, ärgere ich mich, dass niemand erwähnt, dass die Franzosen ja nicht nur lange zu Mittag essen, sondern auch eine der höchsten Geburtenraten Europas haben.

Während ich nur in mich hineinmurre, steht eine junge Portugiesin auf und sagt, was ich denke, nämlich, dass sie nicht glaube, dass sich 14-Stunden-Tage und Kinderreichtum vereinen ließen.

Man müsse sich entscheiden, welche Art von Gesellschaft man sich wünsche. Begeistert warte ich, wie das Podium auf diese Frage reagieren wird. Niall Ferguson imitiert als Antwort Maggie Thatcher.

Mit hoher, gurrender Stimme sagt er: "Es gibt keine Gesellschaften, nur Individuen und ihre Familien" - mittlerweile ein Klassiker unter den neoliberalen Poesiealbensprüchen.

Während sein Publikum noch lacht, wird Ferguson ernst: Es gehe nicht um das, was man sich wünsche. Europa steuere auf ein Desaster zu. "Immer, wenn ich das Gerede vom sozialen Europa höre, möchte ich meinen Phrasenrevolver ziehen."

Es klingt wie: "Du kleine Naive. Träumer wie du machen es uns Vernünftigen so schwer." Wieder Gelächter.

Wäre ich die Portugiesin, würde ich mich jetzt vorgeführt und ausgelacht fühlen.

In einem Interview hat Jürgen Kluge, der Deutschland-Chef von McKinsey, einmal gesagt, McKinsey würde kritische Menschen suchen, die Mut zum Widerspruch hätten. Das bestätigt sich hier nicht.

Im Anschluss an das "European Panel" schwärmen wir zu "Breakouts" aus - das sind Gespräche in Kleingruppen.

Mich hat McKinsey in ein Team gesteckt, das über die europäische Medienindustrie nachdenken soll.

"He's a real character"

Jacques, der blonde Belgier, ist auch wieder da. Heute hat er ein rosafarbenes Blümchenhemd an.

"He's a real character", wird mir später Diana Farrel erzählen.

Jacques hat eine Folie aufgelegt. Es ist der Lebenslauf von Aldo Bisio, unserem Referenten. Wir lesen, dass Aldo sein Studium in Genua mit einem absoluten "Top Score" abgeschlossen hat, dass er bei Olivetti und IBM gearbeitet hat und von 1992 bis 2004 bei McKinsey war.

Jetzt ist er führender Manager der RCS Mediengruppe. Der italienischen Firma gehört unter anderem die Tageszeitung Corriere della Sera. Außerdem hält sie Anteile an spanischen und französischen Zeitungen und Produktionsfirmen.

Aldo ist also ein echter Leader, wie man uns später erklären wird. "Look at this CV!", ruft Jacques in der Tonart, in der Männer nach drei Bier darüber diskutieren, wer den Längsten hat.

Jacques ist aber noch nüchtern. Gemeinsam stellen uns Jacques und Aldo die europäische Medienindustrie vor.

Wir lernen, dass dazu nicht nur Zeitungen und Fernsehsender gehören, sondern auch Musikproduzenten und Filmstudios.

Wert schöpfen nicht nur die, die Inhalte erstellen, sondern auch die, die diese Inhalte sammeln, verteilen und an die Kunden verkaufen.

"Also", fasst Jacques zusammen, "die Medienindustrie ist vielfältiger, als ihr dachtet."

Aha. Beim Mittagessen auf der schönen Terrasse denke ich über die Banalität dieser Präsentation nach.

Dafür werden Studenten gemeinsam mit teuren Beratern nach Griechenland verfrachtet?

Präsentiert Jacques diese Folien auch seinen Kunden? Bekommt er dafür Geld? Vermutlich nicht.

Womit er tatsächlich seine horrenden Honorare verdient, werden wir hier jedenfalls nicht erfahren.

"Where are you from?" Schon wieder. Meine Tischnachbarin Diana Farrel reißt mich aus meinen Gedanken.

Die Amerikanerin will über die Wahl in Deutschland reden. Sie versteht nicht, warum die Deutschen nicht einsehen wollen, dass Angela Merkels Pläne gut, richtig und allenfalls ein Anfang sind.

Für Diana ist klar, dass das deutsche Sozialsystem nicht länger zu bezahlen sein wird. Dynamischer, flexibler, mobiler müsse der deutsche Arbeitsmarkt werden, damit das Land konkurrenzfähig bleibe.

Diana sagt, das sei eine Tatsache. Alle Studien ihres McKinsey-Think-Tanks hätten dies belegt.

Ich spreche dagegen von sozialer Stabilität, von niedrigen Kriminalitätsraten und einem System, das ich in vielen Punkten für gerecht halte.

Diana meint jedoch, wir müssten einsehen, dass man das alles erst einmal erwirtschaften müsse. Sonst seien solche Dinge nicht bezahlbar.

Diana arbeitet häufig in Asien. Sie hat erforscht, warum deutsche Firmen Arbeitsplätze dorthin verlagern.

Das Pech der Übriggebliebenen

Für uns hat sie eine gute und eine schlechte Nachricht: Die entwickelten Ökonomien würden auf Dauer nur elf Prozent der Dienstleistungsarbeitsplätze an die Billiglohnländer verlieren.

Für die deutsche Produktion sehe es hingegen ganz schlecht aus, denn produzieren könnten die Chinesen nun mal ähnlich gut und viel billiger.

Diana findet diese Ergebnisse nicht sehr bedrohlich. Die Deutschen müssten einfach mehr erfinden, designen und entwickeln und sich von der Produktion weitestgehend verabschieden.

"Und was ist mit den Menschen, die nichts erfinden und entwickeln können?", halte ich dagegen. "Die übrig sind in solch einem System?"

Ja, das sei hart, meint Diana, aber kaum zu ändern. Die Deutschen müssten eben bereit sein, zu chinesischen Löhnen zu produzieren, schlägt Katharina vor, auch wenn es vielleicht schwer sei, davon auch zu leben.

"Das 'vielleicht' kannst du streichen", erklärt Johanna unumwunden.

Katharina ist Deutsche, aber in Südafrika aufgewachsen. Gerade erst ist sie nach Europa zurückgekommen, um in der Schweiz zu studieren.

Was in Deutschland passiert, findet sie "shocking". Nichts gehe voran.

Sie versteht nicht, dass die Menschen die Reformen nicht als notwendig ansehen.

Nach dieser politischen Lageeinschätzung strömt die Elite zurück in den "Breakout".

Wir sollen eine Strategie entwickeln, mit der Aldos Zeitung in den nächsten Jahren überleben kann. Wir zeichnen unser Szenario auf Folien.

Wir schätzen, dass in zwanzig Jahren nur noch zwanzig Prozent der Zeitungen auf Papier gedruckt, aber achtzig Prozent in elektronischer Form verbreitet werden.

Deshalb soll Aldo ins Internet investieren. Ob das alles so kommen wird, wissen wir auch nicht, aber Guido, unser McKinsey-Betreuer, findet die Schätzung cool: "So machen wir das auch", sagt er.

"Wir geben ein Szenario vor. Wir versuchen es zu begründen, und dann sagen wir, was der Kunde machen soll."

"Aber wie soll Aldo im Internet Geld verdienen?", fragt der blonde Jacques, als wir unseren Vorschlag präsentieren.

Ich bin erstaunt. Eine kluge, eine richtige Frage. Denn Geld verdienen Verlage im Moment mit Zeitungen, mit Büchern, mit CDs, aber kaum im Internet.

Man könne schon Geld mit Webinhalten machen, beantwortet Jacques jetzt seine eigene Frage, man müsse nur kreativ sein: "Es gibt da eine ganz neue Idee aus Korea..."

Dort schreiben Journalisten ihre Texte, und die Kunden zahlen Trinkgeld, vervollständige ich im Kopf.

Reicht eine einzelne Geschichte, um Consultant zu werden? Nach uns präsentieren zwei Gruppen ihr Konzept für einen europäischen Fernsehsender.

Dieser könne den Europäern zu einer gemeinsamen Identität verhelfen. Sie schlagen Aldo außerdem vor, ein europäisches Internetportal zu gründen, eine Zeitung mit Europaseiten und einen kontinentalen Fernsehsender, auf dem ganz Europa seinen Superstar suchen kann.

Geld, schlagen die Elitestudenten vor, könne es ja von der Europäischen Kommission geben. Da ist der Staat dann plötzlich doch gefragt, denke ich´.

Aldo hört sich die Vorschläge fast gelangweilt an. Dann fragt er: "Was würdet ihr denn machen, um eine europäische Identität zu fördern?" - "Bessere Kommunikation", sagt einer.

"Europa-Unterricht", schlägt eine Spanierin vor. "Eine Kampagne wie 'Du bist Deutschland'", findet Gitta aus Eichstätt.

Ruhig hört sich Aldo das an. Dann beugt er sich vor: "Alles nett. Aber viel zu langsam. Ich würde siebzig Anwälte mieten und sie in die Länder schicken, um gegen die nationalen Regulierungen der Presse zu klagen. Diese Barrieren hindern mich daran, mein Unternehmen in alle europäischen Länder auszudehnen. Sie verhindern eine europäische Identität."

Ob die Regeln nicht für eine gewisse Vielfalt auf dem Medienmarkt sorgten, will ein Belgier hinter mir wissen. Er findet, dass Information keine Ware wie jede andere sei.

Für Vielfalt werde der Markt sorgen, verspricht uns Aldo. Der Belgier ist nicht einverstanden, aber das ist Aldo egal. Er lehnt sich zurück und sagt siegesgewiss: "In zwanzig Jahren wird es sowieso keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr geben. Es wird eine Generation dauern, dann ist das vorbei."

In diesem Moment wirkt Aldo sehr zufrieden. Damit ist das "Breakout" beendet. Der zweite Gang der Gehirnwäsche ist angelaufen. Wir gehen zurück in den Flaggensaal.

Das "Leadership-Panel" ist angesetzt: endlich also Konkretes zum ständig beschworenen Führungsanspruch. Aus den Unterlagen, die McKinsey mir vorher geschickt hat, habe ich gelernt, dass Leader vier Eigenschaften haben sollten: Schwächen zeigen können, Instinkt beweisen, sich in ihre Mitarbeiter hineinversetzen können und anders sein als alle anderen. Colin Price ist wohl ein solcher Leader.

Er ist Direktor im Londoner Büro und erinnert mich an einen Motivationscoach. Für uns hat er sich etwas ganz Besonderes überlegt: Er zeigt ein Achtziger-Jahre-Video, in dem Spieler mit weißen und schwarzen Shirts einen Basketball hin und her passen.

"Zählt, wie oft die Weißen den Ball spielen", fordert uns Colin auf. Das Video läuft. Ich zähle die Pässe, ein komischer Gorilla läuft durchs Bild, ich zähle weiter. Danach will Colin wissen, wie oft der Ball gepasst wurde. Dreizehn-, vierzehn-, siebzehnmal?

Wir sind uns nicht einig. Colin schlussfolgert, dass die Realität für jeden eben anders sei. Ein wahrer Leader müsse in der Lage sein, für seine Gefolgschaft die Realität zu definieren.

Dieser Gedanke beschäftigt und erschreckt mich. Werden Führungskräfte wirklich dafür ausgebildet, die Mitarbeiter im Sinne der Firma zu manipulieren, gar zu täuschen? Rät McKinsey den Vorständen tatsächlich, so vorzugehen?

Vielleicht bin ich naiv. Colin ist inzwischen schon beim nächsten Thema, dem Kern seiner Vorführung. "Wer hat im Film einen Gorilla gesehen?", will er wissen. Ich melde mich. Die meisten anderen lassen die Hand unten. Colin freut sich.

Dieser Test beweise, dass wir ihn in diesem Moment als Führer akzeptiert hätten. Er habe uns angewiesen, auf die Pässe zu achten. Die meisten hätten die Anweisung befolgt. "Leadership is about seeing the gorilla", wiederholt Colin mehrmals.

Führer könnten die Aufmerksamkeit ihrer Mitarbeiter auf bestimmte Aufgaben lenken, selbst aber gleichzeitig das wirklich Wichtige, also den Gorilla, sehen.

Diese Veranstaltung verwirrt mich zusehends. Mit Psychospielchen bin ich schon immer schlecht zurechtgekommen. Colins Weisheiten finde ich bedenklich und banal zugleich.

Aber seine Vorführung wirkt. Viele werden in den nächsten Tagen mehrfach begeistert von der Gorillageschichte erzählen. Dann dürfen wir kurz zurück in den Bungalow, um uns für das Galadiner am Abend fertig zu machen. Hauke weist uns noch in die Kleiderordnung ein.

Anzug für die Jungs, bei den Mädchen gebe es nur eine Vorgabe: "Hot, hot, hot!" Langsam habe ich genug vom spaßigen Beraterton. Ich bin froh, dass ich nicht nur die Stiefel aus dem Kleiderschrank meiner Mitbewohnerin mitgenommen habe.

Ich ziehe Strumpfhosen und einen schwarzen Rock an und wünsche mir nichts sehnlicher, als um 20 Uhr nicht ein Date in der Hotellobby, sondern in der Kneipe bei mir um die Ecke zu haben, um mit Freunden das Länderspiel gegen die Türkei anzuschauen. Der Abend beginnt mit einem Cocktail am Ländertisch.

Ich suche daher deutsche Flaggen und finde Annette, die für McKinsey Deutschland das Studentenrecruiting, also auch diese Veranstaltung, organisiert. Ich will wissen, worauf sie bei der Auswahl der Studenten achtet. "Auf Topleistungen und auf internationale Erfahrung", erklärt Annette. Die Fachrichtung sei egal.

Aber ich solle mir keine Sorgen machen, alle, die hier in Athen dabei gewesen seien, könnten zu Bewerbungsgesprächen vorbeikommen. Wir seien vorausgewählt.

Ob es sie nicht störe, dass McKinsey ein so schlechtes Image in Deutschland habe, frage ich. "Hat es das denn immer noch?", erwidert Annette und lacht. Sie glaubt, dass McKinsey für Wirtschaftswissenschaftler einer der beliebtesten Arbeitgeber sei.

Und um das Bild, das die anderen haben, zu ändern, mache McKinsey ja Veranstaltungen wie diese. Ein Prinzip der EuroAcademy ist, dass McKinsey uns zu ständig neuen Smalltalk-Gruppen zusammenwürfelt. Hier ist nicht der Ort der langen Gespräche mit immer denselben Leuten, sondern des Networkings.

Gefühlte hundert Mal habe ich Studenten aus Russland, Deutschland und Dänemark mein Leben im Zeitraffer erzählt, gefühlte hundert Mal standen McKinsey-Mitarbeiter daneben und hörten zu. Was merken sie sich, wenn wir reden, und warum? Ich verlasse den Ländertisch und gehe zum nächsten Elite-Gesprächkreis.

Beim Galadiner werde ich an Tisch 13 sitzen - zwischen zwei Consultants. Jarus ist Ungar, geboren wurde er in Wien. Jetzt lebt er mit seiner griechischen Frau und den drei Töchtern in Athen.

Er ist Historiker, spricht acht Sprachen, und auch er liebt McKinsey. Das Tollste seien die Menschen, sagt er.

Alle seien überdurchschnittlich intelligent, inspirierend und leidenschaftlich. "Nirgendwo anders", schwört er, "nehme ich aus Gesprächen so viel mit wie hier."

Jarus ist charmant, spricht viel von seinen Kindern, die dreisprachig aufwachsen, und von dem guten Gefühl, einen Beruf zu haben, der einem Verantwortung und Abwechslung bietet. Viel Zeit für die Töchter habe er nicht, gibt er zu.

Aber wenn er da sei, dann ganz. Wie oft das denn klappe, will ich wissen. Vor zwei Wochen, erwidert er strahlend, sei er mit den beiden ältesten in Wien gewesen.

Auch Björn, der Consultant in München ist, berichtet, er arbeite siebzig Stunden und mehr pro Woche. Am Wochenende habe er aber meist frei. Ich teile siebzig durch fünf Werktage und komme auf vierzehn Stunden pro Tag. Ob das nicht Ausbeutung sei, frage ich.

Manchester-Kapitalismus? Björn findet mich und meine Sorge um ihn ganz süß. Er sagt, er mache sich über seine Arbeitszeiten kaum Gedanken.

"Ein ganz komisches Thema", findet er. "Alle wollen ständig über Arbeitszeiten reden. Das ist, glaube ich, ein europäisches Problem. Ich sitze doch nicht da und stoppe, wie lange ich im Büro oder beim Kunden bin!"

Als er sieht, dass ich diese Einstellung nicht bedingungslos teile, fügt er hinzu: "McKinsey ist da aber ganz flexibel - gerade wenn es darum geht, Frauen im Unternehmen zu halten.

Eine Kollegin, die Familie hat, kommt morgens zum Beispiel immer um acht und geht abends um neun. Die macht danach keine Termine mehr. Wenn man das unbedingt so will, geht es auch."

Ich rechne aus, dass das ja auch 13-Stunden-Tage sind. Wie viel Zeit bleibt da für die Familie? Jarus hatte in einem Nebensatz erwähnt, dass seine Frau ganztags zu Hause sei.

Andere Berater managen ihr Familienleben mit drei Kindermädchen. Später wird mir eine Studentin erzählen, dass sie einen Berater getroffen hat, der feste Termine mit seinen Kindern macht, ein- bis zweimal pro Woche.

Ist das McKinseys Familienpolitik? Kinder nur, wenn der Partner auf Karriere verzichtet?

Und wie leben Menschen wie Jarus, Guido oder Björn, die sich ganz und gar über ihre Arbeit, ihre 14-Stunden-Tage definieren, mit jemandem zusammen, der nach ihren Maßstäben uneffizient ist?

Der vorliest, spazieren geht, mit Kinderwagen und Zeitung im Café sitzt? Während ich nachdenke, greift Jarus zu seinem Handy. Seine Familie in Athen wartet auf ihn.

Es ist schon nach zehn. Auch heute wird er seine Töchter wohl nicht mehr wach erleben. Per SMS teilt er mit, dass er noch nicht weg könne, er müsse auf Jean-Claudes Rede warten. Jean-Claude heißt mit Nachnamen Trichet und ist Präsident der Europäischen Zentralbank.

Während die Kellnerin mein Steak serviert, lasse ich den Blick durch den Raum schweifen und finde Trichet am McKinsey-Tisch. Man sei stolz, ihn hier zu haben, sagt der McKinsey-Griechenland-Chef wenig später.

Jean-Claude habe sogar Termine verschoben, um hier mit 120 jungen, leidenschaftlichen Europäern zusammenzutreffen. Von einem persönlichen Treffen, einem Austausch oder einer Diskussion merke ich allerdings wenig. Trichet hält zwischen Steak und Dessert eine endlos lange Rede über den Erfolg des Euro.

Die Vermutung, dass er diesen Text nicht extra für uns geschrieben hat, liegt nahe. Dass er sich mit den McKinseys sehr gut versteht, ist offensichtlich. Während Trichet spricht, überlege ich die ganze Zeit, warum er hier ist. Kap Sounio ist weder Berlin noch London, da kommt man nicht mal zufällig vorbei.

Alle, mit denen ich später über diesen Auftritt sprechen werde, waren enttäuscht und irritiert zugleich. Trichets Besuch war uns als besonderes Highlight angekündigt worden. Dass er nur eine Standardrede über den Euro halten würde, hatte niemand erwartet.

Wild wird darüber spekuliert, wie viel Trichet für diesen Besuch wohl bekommen habe. Mittlerweile erzählt der EZB-Chef von seiner Vergangenheit im französischen Finanzministerium.

Man könne sich gar nicht mehr vorstellen, was das für Zeiten waren: Es habe damals in Frankreich noch feste Preise gegeben! Aber er habe das geändert, er habe die Preise komplett liberalisiert.

Das bringt ihm Szenenapplaus vom McKinsey-Tisch ein. Jean-Claude, so scheint es, ist einer der Ihren. Nach dem Galadiner schleiche ich zurück in meinen Bungalow und stelle den Wecker auf 6.45 Uhr. Wieder werde ich nur gut fünf Stunden schlafen können, denn am nächsten Tag wollen wir in aller Frühe zum Segeln aufbrechen.

Ich fühle mich zugeredet und völlig leer zugleich. Die Veranstaltung ist ein Kommunikationsevent. 18 Stunden pro Tag reden wir über uns, über McKinsey, über unsere Erwartungen und über das, was das Unternehmen uns bieten kann.

Ich rufe in Berlin an und bitte um Neuigkeiten aus der wirklichen Welt. Deutschland hat 2:1 verloren, der Kanzler ist noch immer nicht gekürt, meine Freunde waren im Puppentheater und bei einem neuen Vietnamesen. "Da könnten wir auch mal hin", schlägt mein Freund vor.

Nicht so ein Mitte-Schick-Laden sei das gewesen, nur fünf Euro habe das Essen gekostet. Ich lege auf und schaue mir die Hotelinformationen an.

Ich könnte mir jetzt für elf Euro einen Cappuccino aufs Zimmer bestellen. Oder mir im Wellnessbereich zur Entspannung für 120 Euro den Körper mit Schokolade einreiben lassen.

Hier in Kap Sounio kursiert das Gerücht, dass ein Jungberater 70.000 Euro pro Jahr als Einstiegsgehalt bekommt. Auto, Prämien und Spesen laufen extra. Ich frage mich wieder, wie lange es dauert, bis man abhängig wird vom vielen Geld, vom Luxus.

(Tag drei folgt in Kürze ...)

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