Bei uns in Rom:Vor der Reifeprüfung

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In Italien fiebert alles auf den Montag hin. Erstmals seit sechseinhalb Corona-Monaten erklingt die Schulglocke. Da ist es fast Nebensache, dass nicht nur 60 000 Lehrer fehlen.

Von ULRIKE SAUER

Der Countdown läuft. Und alle zählen mit. Es gibt wirklich nichts, was den Italienern im Moment wichtiger wäre als das Läuten der ersten Schulglocke am kommenden Montag. Darauf warten die Familien von zehn Millionen Schülern und Lehrkräften. Hinter ihnen liegen 193 Tage Schulschließung, eine gefühlte Ewigkeit. Sechseinhalb Monate. Und davor zittert die Regierung, die gehörigen Bammel vor der Stunde der Wahrheit hat.

Logisch, dass vor dem kollektiven Stresstest die Spannung steigt. Zur Beruhigung lud die Schulleiterin zum Date auf Google Meet ein. Viele ihrer Sätze beginnen mit den Worten "Hoffen wir, dass ...". Man ist nach 85 Minuten Videokonferenz nicht viel schlauer. Aber dafür kann die Frau nichts. Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit ihr zu hoffen, dass das Bildungsministerium seine hehren Versprechen demnächst einlöst.

Denn Covid hin, Covid her - es ist eben wie immer in Italien. Man palavert, man befehdet sich, man jagt Illusionen hinterher. Den Sommer haben die Politiker damit verbracht, über die neuen Klassenpulte zu streiten. Domenico Arcuri, Sonderkommissar der Regierung für den Corona-Notstand, schrieb Aufträge zur Lieferung von drei Millionen Einzeltischen aus. Sie sollen garantieren, dass der Neubeginn der Schulen unter Beachtung des vorgeschriebenen Sicherheitsabstands von einem Meter erfolgen kann. Das war am 20. Juli. Die Verträge sollten bis 7. August unterschrieben werden. Lieferfrist: 31. August. Mindestvolumen pro Hersteller: 200 000 Pulte. Man könnte das für einen schlechten Scherz halten. Wie sollen die italienischen Möbelfirmen, die 200 000 Pulte im Jahr herstellen, innerhalb von drei Wochen drei Millionen Tische liefern? Und das im Ferienmonat August? In der Regierung aber fragt sich niemand, ob der Auftrag überhaupt ausführbar ist. Kritik wird entrüstet zurückgewiesen. Bildungsministerin Lucia Azzolina verbittet sich ein "defätistisches Klima".

So realitätsfern die Regierenden in Rom sind, sie sind flexibel. Die Ausschreibung wurde geändert, die Fristen verlängert. Von den bestellten 2,4 Millionen Single-Pulten trafen bislang 100 000 ein. Aber man ist so flexibel in Rom, dass die Schulen trotzdem öffnen können. Ehrenwort von Premier Giuseppe Conte. Naja, es gibt da auch noch andere Problemchen. So fehlen 72 Stunden vor dem Glockenton noch 60 000 Lehrer. Aber das Wochenende ist ja lang. Beim Fernsehsender La7 laufen derweil die Vorbereitungen für die große Live-Sondersendung am Sonntagabend. Sie trägt den Titel einer beliebten italienischen Filmkomödie: "Die Nacht vor der Reifeprüfung".

© SZ vom 11.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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