Bei uns in Rom:Laut? Wir doch nicht!

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Seit dem Regierungswechsel in Italien herrschen dort wieder leisere Töne. Und nicht nur das: Weil es eine hohe Nachfrage für Ruheplätze in Zügen der ersten Klasse gibt, sollen die nun auch in der zweiten Klasse angeboten werden.

Von Ulrike Sauer

Ach, welch versöhnlicher Jahresausklang! Aus dem anno bellissimo, dem wunderschönen Jahr, das Premier Giuseppe Conte in den Neujahrswünschen für 2019 versprochen hatte, ist nun ja nichts geworden. Es ging mit Italien weiter bergab. Wirtschaftlich, gesellschaftlich und vor allem moralisch. Das Unvorstellbare wurde wahr: Liliana Segre, 89, muss seit November von Leibwächtern beschützt werden. Die Auschwitz-Überlebende, die beharrlich gegen den um sich greifenden Rassismus kämpft, erhält 200 Hassmails am Tag. In Italien! Wo man sich so viel auf die kollektive Menschlichkeit einbildete. Nun endet dieses anno bellissimo und gibt, o Wunder, doch tatsächlich in den letzten Tagen noch Anlass zu staunen.

Nicht, dass die populistische Lärmkulisse verstummt wäre. Aber Gehetze und Gegröle, die das Klima 2019 so sehr vergiftet haben, dringen gedämpft in die Öffentlichkeit. Plötzlich scheint in Italien Rücksicht angesagt. Man könnte auch sagen: Im modevernarrten Land ist Anstand das neue Schwarz. Es macht der emotionalen Propaganda Konkurrenz.

Conte, zum Beispiel. Er gab in dieser Beziehung schon immer eine gute Figur ab. Die Vier-Spitzen-Pochette in der Brusttasche des Sakkos ist sein Markenzeichen. Er hat jetzt auch seinen Kommunikationsstil geändert. Nach dem Koalitionswechsel im August verhieß Conte den Anbruch "eines neuen Humanismus". Das klingt zwar wieder recht ambitioniert. Aber doch weniger populistisch als das anno bellissimo zu einem Zeitpunkt, als der selbst proklamierte Anwalt des Volkes noch mit dem Rechtsnationalisten Matteo Salvini koaliert und Italien schnurstracks in die Rezession getrieben hatte.

Dann geschah, womit niemand gerechnet hatte. Über Nacht breitete sich ein Massenphänomen aus, das dem lautstarken Lega-Chef Salvini das Monopol der Straße streitig macht: die Sardinen. Hunderttausende zeigen dicht gedrängt auf den Plätzen des Landes, dass es ein anderes Italien gibt. Den Hassparolen der Populisten und dem Gejohle ihrer Anhänger setzen die kleinen, stummen Fische seit sechs Wochen leise Ironie entgegen.

Überhaupt wäre es an der Zeit, uns von einem Gemeinplatz zu verabschieden. Diese Italiener sind so furchtbar laut, heißt es oft. Falsch! Der Frecciarossa-Zug rast mit 300 Stundenkilometern den Stiefel rauf und runter und bietet den Fahrgästen der Business Class seit Langem Ruhewaggons an, in denen sie nicht von den Handygesprächen der Mitreisenden behelligt werden. Diese leisen Abteile sind so beliebt, dass die Bahn 2020 auch den Gästen der Economy-Klasse das Reisen bei gedämpfter Lautstärke ermöglichen will. Laut? Wir doch nicht!

© SZ vom 27.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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