Autor David Shipler zur Wirtschaftskrise:"Kredit ist eine Verführung"

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Bestseller-Autor David Shipler über die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise, warum die Katastrophe absehbar war - und wieso den USA eine Massenverarmung droht.

Moritz Koch, New York

Schon vor der Krise lebten in den USA 37 Millionen Menschen in Armut. David Shipler hat sie jahrelang begleitet und ihre Schicksale in seinem vielbeachteten Buch "The Working Poor" beschrieben. Im Interview mit sueddeutsche.de erklärt er, wieso er in der Vernachlässigung der Unterschicht einen der Hauptgründe für die Finanzkrise sieht.

Lieber den Menschen helfen und nicht den Banken - Protestbekundung an der New York Stock Exchange. (Foto: Foto: AFP)

sueddeutsche.de: 1964 hat der damalige Präsident Lyndon Johnson der Armut den Krieg erklärt. Warum konnte diese Schlacht nicht lange vor der Wirtschaftskrise gewonnen werden?

Shipler: Die Gründe sind zahlreich und komplex. Das Fehlen eines sozialen Netzes ist ein Faktor. Außerdem geben wir der Privatwirtschaft mehr Raum, Löhne so weit wie möglich zu senken. Genauso wichtig ist es aber, auf die persönlichen Attribute der Betroffenen zu schauen. Die Armen in Amerika haben so gut wie keine Fertigkeiten, die sich vermarkten ließen. Das ist eine Konsequenz schlechter Schulen und schlechter Ausbildungsprogramme, aber auch das Ergebnis zerrütteter Familien.

Die meisten Haushalte, die in Armut leben, werden von alleinstehenden Frauen geführt. Viele sind kaum in der Lage ihr eigenes Leben zu ordnen, geschweige denn ihre Kinder zu erziehen.

sueddeutsche.de: Sind die USA eine Klassengesellschaft?

Shipler: Ja, wir waren das schon immer, wir wollten es nur nicht wahrhaben. Es ist Teil unserer Ethik, dass es Chancengleichheit gibt und dass man es zu allem bringen kann, wenn man hart arbeitet. Das ist der amerikanische Mythos. Es ist ja auch ein guter Mythos, weil es uns ein Ideal setzt, nach dem wir streben. Aber es bleibt ein Mythos, eine Illusion.

sueddeutsche.de: Heute noch mehr als früher?

Shipler: Die soziale Mobilität ist in den vergangenen 50 Jahren drastisch zurückgegangen. Nehmen wir meinen Großvater als Beispiel. Er war nur bis zur achten Klasse in der Schule, arbeitete auf den Docks in New Jersey für einen Dollar am Tag und wurde am Ende der Chef der Schifffahrtsgesellschaften. So etwa kann heute einfach nicht mehr geschehen. Man braucht einen MBA-Abschluss, um Manager zu werden. Kometenhafte Aufstiege gibt es nicht mehr. Im Allgemeinen bleiben jene, die in Armut geboren werden, ihr gesamtes Leben arm. Die Geschichte vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, klingt schön - aber so etwas passiert nicht mehr in Amerika. In seltenen Einzelfällen vielleicht, aber nicht als gesellschaftliches Muster.

sueddeutsche.de: Woran liegt das?

Shipler: Die mittleren Stufen in der sozialen Leiter sind weggebrochen. Ein Grund ist der Niedergang unserer Industrie und der Aufstieg des Dienstleistungssektors. Der Niedergang der Industrie bedeutete auch den Niedergang der Gewerkschaften.

Im Privatsektor sind nur 7,5 Prozent der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Wir haben also praktisch keine Gewerkschaften in den USA. Wir hören und lesen zwar viel über Gewerkschaften, aber nur weil wir der Autoindustrie so viel Aufmerksamkeit schenken, wo es eine starke Gewerkschaft gibt. Noch.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum die Chancenlosigkeit Auslöser für die Finanzkrise war.

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sueddeutsche.de: Hat die heutige Kreditkrise ihren Ursprung in der Chancenlosigkeit, sich mit Arbeit aus der Armut zu befreien?

Autor David Shipler: "Die mittleren Stufen in der sozialen Leiter sind weggebrochen." (Foto: Foto: oH)

Shipler: So ist es. Viele Amerikaner erkannten, dass das Kapital viel höhere Erträge versprach als Arbeit. Da sie kein Kapital hatten, mussten sie es sich leihen. Die unteren 25 Prozent der Gesellschaft hatten im Boomjahr 2006 ein negatives Nettovermögen. Ihre Schulden waren größer als ihr Besitz. Ein Viertel aller Haushalte war so gesehen überschuldet.

Jeder, der diese Zahlen kannte, hätte sehen müssen, dass wir auf einen Kollaps zusteuern. Kredit ist eine Verführung, weil er im Optimalfall die Bildung von Vermögen erlaubt. Es geht dabei aber nicht nur um ein zweckrationales Kalkül, sondern auch um den psychologischen Stolz, den Besitz schafft. Gerade der Besitz eines eigenen Hauses. Die ganz Armen allerdings sahen in Krediten weniger einen Weg aus der Armut als ein Mittel des Überlebens.

sueddeutsche.de: Sie übertreiben.

Shipler: Nur ein bisschen. Sobald den Familien die Lebensmittelmarken ausgingen, was oft schon in der zweiten oder dritten Wochen der Monats geschah, finanzierten sie ihre Einkäufe mit der Kreditkarte. Dinge des täglichen Bedarfs, lebensnotwendige Dinge. Im Sommer 2008 mussten viele Haushalte auch ihr Benzin auf Kredit pumpen, weil der Ölpreis in die Höhe schoss und unsere öffentliche Infrastruktur ein Desaster ist. Mehr als 90 Prozent aller Pendler haben keine Alternative zum Auto. Das heißt, wenn ein Arbeitsloser einen Job bekommt, wird der gleich mit neuen Ausgaben konfrontiert. Er braucht ein Auto und er braucht Benzin. Am Ende hat er weniger Geld als vorher. Hinzukommt: Unsere Konsumgesellschaft zwingt auch arme Eltern dazu, ihren Kindern teure Jeans und Turnschuhe zu kaufen. Wir sind Opfer der Werbeindustrie.

sueddeutsche.de: Trifft die Krise die Unterschicht besonders hart?

Shipler: In vergangenen Rezessionen hat sich der Lebensstandart der meisten Armen nicht wesentlich verschlechtert. Sie fanden einen Job, sie verloren ihn wieder. Ihr Gehalt war winzig, die Arbeitslosenhilfe auch. Die Menschen waren unten, und sie blieben unten. Dieser Abschwung ist aber weitaus schärfer. Es kann gut sein, dass die Unterschicht noch weiter abgleitet. Das eigentliche Merkmal dieser Krise ist aber: Die Dynamik der Armut hat die Mittelklasse erreicht. Viele Amerikaner, die sich sicher fühlten, verlieren ihre Häuser und damit fast all ihr Vermögen.

sueddeutsche.de: Fürchten sie eine Massenverarmung?

Shipler: Das ist durchaus möglich. Allerdings haben diese Leute etwas, was kaum einer aus der alten Unterschicht hat: Fertigkeiten und Talente, die sich vermarkten lassen. Und wenn das auch nur bedeutet, früh aufstehen und Verabredungen einhalten zu können. Sobald sich die Wirtschaft erholt, werden diese Leute wieder auf die Beine kommen.

Hier muss im übrigen auch das Konjunkturprogramm ansetzen, an dem die Regierung gerade feilt. Wir brauchen ein intensives Jobtraining für die Unterschicht, damit diese Menschen ihre Defizite ausgleichen können. Bisher sind diese Leute einfach nicht wettbewerbsfähig in einer globalisierten Arbeitswelt. Es geht um Soft Skills. Pünktlichkeit, Kontrolle der eigenen Emotionen, insbesondere der Wut und die Fähigkeit, Anweisungen befolgen zu können. Eine Arbeitsethik, die auf gewisses Selbstbewusstsein voraussetzt. Die staatlichen Programme müssen Erfolgsgefühle vermitteln, so dass die Armen wieder Tritt fassen im Alltag.

sueddeutsche.de: Sie schreiben in ihrem Buch, die USA importierten die Dritte Welt? Was meinen Sie damit?

Shipler: Immigranten kommen zu uns, um Billigarbeit zu verrichten. Textilarbeiter und Farmarbeiter, die über das Land ziehen und die Ernte einholen. In vielen Bundesstaaten geht es ohne die Landarbeiter gar nicht. Es gibt dort nicht die Masse an Arbeitkräften, die der Agrarsektor braucht. Die einheimische Bevölkerung ist nicht mehr groß genug. Führer arbeiteten die Afroamerikaner auf den Feldern, doch viele sind längst fortgezogen, in die großen Städte im Norden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Wohnungssubventionen wichtiger sind als eine weitere Erhöhung des Mindestlohns.

sueddeutsche.de: Präsident Barack Obama hat eine soziale Erneuerung Amerikas und die Bekämpfung der Armut versprochen. Wie kann ihm gelingen, woran seine Vorgänger gescheitert sind?

Shipler: Obama ist schon wegen seiner Abstammung für viele in der Unterschicht eine Inspiration. Afroamerikaner sind ja besonders oft von Armut betroffen. Obama gibt ihnen Stolz. Er wird als Vorbild dienen und zur Eigeninitiative animieren. Aber natürlich kommt es auch auf seine Politik an.

Besonders wichtig ist es, Gewerkschaften zu fördern. Hier sehe ich schon gute Ansätze. Mit einem neuen Gesetz will der Kongress versuchen, im Dienstleistungssektor die Gründung von Gewerkschaften zu erleichtern. Das bisherige Recht gibt den Arbeitgebern viele Möglichkeiten, Gewerkschaftsgründern Hürden in den Weg zu stellen. Und die Gewerkschaften, die es schon gibt, sind in der Regel so schwach, dass sie kaum etwas erreichen. Die Löhne sind niedrig und die Arbeitstage lang.

sueddeutsche.de: Sollte er den Mindestlohn erhöhen?

Shipler: Der Mindestlohn wurde erst gerade etwas erhöht. Viel wichtiger sind Wohnungssubventionen. Die Idee, große soziale Wohnbaukomplexe mit niedrigen Mieten zu bauen, ist zwar diskreditiert: Es entstanden Brennpunkte mit hoher Kriminalität, die ihren Bewohner fast keine Chance gaben aus dem Teufelskreis von Gewalt, Drogenmissbrauch und Armut auszubrechen. Aber im Kleinen funktioniert das Modell, insbesondere wenn es konsequente Regeln gibt, die verhindern, dass Drogendealer dort einziehen.

sueddeutsche.de: Wären Mietzuschüsse ein Modell?

Shipler: Solche Programme gibt es bereits. Sie sind vielversprechend und müssen ausgebaut werden. Viele Familien zahlen ihren Vermietern 50 bis 70 Prozent ihres Einkommens. Das kann schlimme Folgen haben. Wenn am Essen gespart wird, sind die Kinder schlecht ernährt. Studien haben gezeigt, dass die Kinder von Niedrigverdienern, die keine staatlichen Zuschüsse erhalten, besonders oft unterernährt sind. Diese Kinder sind dann ihr ganzes Leben lang geschädigt und scheitern in der Schule. Sie sind auf ein Leben in Armut programmiert.

sueddeutsche.de: In Deutschland wird immer wieder über eine negative Einkommenssteuer diskutiert. Wie sind die Erfahrungen damit in den USA?

Shipler: Wir haben ein Programm, das von Präsident Nixon eingeführt wurde. Earned Income Tax Credit, heißt es. Es ist bei den Demokraten und bei den Republikanern beliebt, weil nur diejenigen davon profitieren, die sich in die Gesellschaft einbringen, Initiative zeigen und arbeiten. In der jetzigen Situation sind negative Einkommenssteuern aber ein wenig taugliches Mittel. Arbeitsplätze gehen so schnell verloren, dass längst nicht mehr jeder, der will, einen Job findet.

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