Aufstand gegen Rürup:Einmal richtig austoben

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In der Rürup-Kommission droht ein Aufstand gegen den Vorsitzenden. Doch auch unter Experten gilt: Nach dem Dampf ablassen sind alle wieder lieb.

Von Andreas Hoffmann

(SZ vom 07.05.2003) — Aggressive Jungen und Mädchen. Dieses Bild hat mancher Experte der Rürup-Kommission vor Augen, wenn er an die Sitzung an diesem Mittwoch denkt. Der anonym bleibende Fachmann spricht von Schulen, in denen Kinder still sitzen sollen, um dem Lehrer zu folgen. Davon, dass sich bei den Schülern immer mehr Frust ansammelt. "Am Mittwoch", sagt er, "wird es wie unter aggressiven Kindern sein. Die müssen sich auch einmal richtig austoben."

Möglicherweise könnte das Austoben aber unangenehme Folgen haben, wie ein internes Strategiepapier belegt, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Darin regen einige Mitglieder für den Mittwoch einen "kollektiven öffentlichen Austritt aus der Kommission" an.

Ungewöhnlich für eine Expertenrunde, die sich mit den Sozialsystemen beschäftigen soll, jetzt aber Selbstfindung betreibt. Es hat sich Unmut angestaut, zuletzt zeigte sich dies bei einem Auftritt der Mitglieder Edda Müller, Chefin der Verbraucherzentrale Bundesverband, Barbara Stolterfoht, Vorsitzende des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, und IG-BAU-Chef Klaus Wiesehügel.

Mit Rürups Führungsstil unzufrieden

Vor Journalisten äußerten sie sich zur Kommissionsarbeit und sagten Sätze wie: "Ich habe noch nie ein so vordemokratisches Verfahren erlebt wie in dieser Runde" (Stolterfoht). "Das Geld für die Kommission hat die Bundesregierung zum Fenster rausgeschmissen" (Müller). Die Runde sei ein "Flop", und inzwischen sei es "fast ehrenrührig, dem Gremium anzugehören" (Stolterfoht). Was den Vorsitzenden Bert Rürup erwidern lässt: "Wer die Mitgliedschaft als ehrenrührig betrachtet, kann auch austreten."

Hintergrund für den Schlagabtausch: Die Kritiker hadern mit dem Arbeitsstil. Man fühlt sich übergangen, spricht von intransparenten Entscheidungsstrukturen und nicht eingehaltenen Vereinbarungen. Und es geht um Inhalte, genauer gesagt um das Y-Modell, dem Stolterfoht und Müller wenig abgewinnen können.

Das Wortungetüm steht für den Kompromiss zur Gesundheitspolitik, den Rürup und Karl Lauterbach vor knapp vier Wochen vorgestellt haben. Dabei geht es um kurz- und langfristige Reformen. Kurzfristig - die Kenner sprechen vom Stamm des Y - sollen über mehrere Vorschläge, wie Praxisgebühren oder Zuzahlungen, gut 24 Milliarden Euro gespart werden. Langfristig soll das System weiter entwickelt werden, und da streben die Ideen wie die Äste des Y auseinander.

Rürup will einheitliche Prämien einführen. Reiche und Arme würden den gleichen Beitrag zahlen; Bedürftigen müsste der Staat helfen, mit über 25 Milliarden Euro pro Jahr. Lauterbach will das heutige System in eine Bürgerversicherung ausbauen, in die Beamte und Selbständige einzahlen. Und er will die Privatversicherer abschaffen.

Und danach gibt es Streicheleinheiten

An diesem Mittwoch nun will die Kommission weiter über das Y-Modell beraten. Entscheidungen stehen nicht an. Es fehlt an Zahlen über die langfristigen Wirkungen. Müller und Stolterfoht lehnen aber schon den kurzfristigen Teil des Y-Konzepts ab.

Sie halten die Sparvorschläge für "unsolide gerechnet, sozial unausgewogen und wirtschaftspolitisch verfehlt", schrieben sie zusammen mit IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel und Gitta Trauernicht, Ex-Sozialministerin aus Niedersachsen, kürzlich in einem Thesenpapier.

Damals präsentierten sie ein Alternativkonzept, über das sie diskutieren wollen. So wollen sie die Einkommensgrenzen in der Krankenversicherung anheben und die Steuern auf Tabak und Alkohol erhöhen. Die Koalition soll die Verschiebung von Finanzlasten an die Kassen rückgängig machen, die Ärzte sollen verstärkt billigere Nachahmerpräparate verordnen, und Rot-Grün die Internetapotheke einführen. Insgesamt ließen sich so 32 Milliarden Euro sparen.

Allerdings glauben die Kritiker nicht, für ihre Pläne eine Mehrheit zu bekommen. Es geht ohnehin mehr um Befindlichkeiten, um Diskussionen und, dass sich die "Verhinderungsstrategie der Kommissionsleitung" nicht fortsetzt, wie es in dem erwähnten Strategiepapier heißt.

Anscheinend ist es unter den Experten wie in der Schule. Wenn die Mädchen und Jungen sich ausgetobt haben, wollen sie ihre Streicheleinheiten. Professor Bert Rürup muss sie nur gewähren.

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