Armut in Indien:Sind 35 Cent am Tag genug?

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Armut in Indien: eine obdachlose Familie in Neu-Delhi (Foto: AFP)

In Indien sinkt die Zahl der Armen - behauptet die Regierung. Deren Zahlen halten Hilfsorganisationen jedoch für weit entfert von der Lebenswirklichkeit. Jetzt ist in einem der bevölkerungsreichsten Länder der Erde ein Streit über die Definition von Armut entbrannt.

"Die Größe einer Nation ist am Umgang mit ihren schwächsten Mitgliedern abzulesen", soll Indiens Nationalheld Mahatma Gandhi einst gesagt haben. Nach diesem Maßstab gehört Indien - in der Lesart der Regierung - zu den Supermächten: Getreide wird für große Teile der Bevölkerung subventioniert, jedem auf dem Land sind 100 Tage im Jahr Arbeit zugesichert und die Zahl der Armen sinkt rapide.

Dieser optimistische Blick wird allerdings von vielen in Frage gestellt, von Hilfsorganisationen bis hin zum Nobelpreisträger. Ein Streit um die Armut ist im Land entbrannt. Die Zahlen sehen zunächst gut aus: Nur noch 22 Prozent der Menschen in Indien lebten zuletzt unter der Armutsgrenze, fand die Planungskommission der Regierung in der vergangenen Woche heraus.

Sieben Jahre vorher waren es noch 37 Prozent, Mitte der Neunziger sogar noch 45 Prozent. In dem riesigen Land mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern bedeutet das: Ihre Zahl konnte zwischen 2004/05 und 2011/12 um etwa 138 Millionen reduziert werden. Doch statt Lob hagelte es Kritik.

Regierungsberechnungen weit weg von der Lebensrealität

Es könne nicht applaudiert werden, erklärte die Hilfsorganisation Actionaid. Denn auf den Nahrungsbedarf sei überhaupt keine Rücksicht genommen worden - und das in einem Land, in dem laut Unicef fast die Hälfte der Kleinkinder unterernährt ist und jedes Jahr mehr als 300.000 Babys innerhalb von 24 Stunden nach ihrer Geburt sterben. Für den Armutsbericht wurden vielmehr die Ausgaben eines Menschen berechnet. Demnach ist nicht mehr arm, wer mehr als 34 Euro-Cent pro Person und Tag in ländlichen Gebieten und 42 Cent in Städten zur Verfügung hat.

Das sei viel zu wenig und verspotte die Armen, kritisierte die Opposition. Raj Babbar, Sprecher der regierenden Kongresspartei, konterte: Sogar in der Metropole Mumbai könne man für 12 Rupien (15 Cent) eine vollwertige Mahlzeit finden. Sein Parteikollege Rasheed Masood legte nach, in der Hauptstadt Neu-Delhi sei das schon für 5 Rupien möglich.

Ein gefundenes Fressen für die Medien, die die oft maßlos reichen Politiker für weltfremd erklärten und zeigten, dass diese Preise dank der fast zweistelligen Inflation schon lange nicht mehr gelten. Ein Tee koste heute in Delhi 7 Rupien, ein Teller mit Reis und Linsen an Straßenständen 15 Rupien und wer zwei Fladenbrote mit Soße wolle, müsse 20-25 Rupien hinblättern, schrieb etwa die Times of India.

Subventioniertes Getreide für zwei Drittel der Bevölkerung

Dass 34 oder 42 Cent nicht reichen, um den Hunger zu stillen, gestand die Regierung quasi auch selbst ein. Erst Anfang des Monats hatte sie beschlossen, hoch subventioniertes Getreide nicht an 22 Prozent, sondern an 67 Prozent der Bevölkerung auszugeben. Es gibt also verschiedene Armutsgrenzen im Land - und auch weltweit. Die Weltbank kennt zwei weithin akzeptierte Sätze, einen für "extreme Armut" bei 1,25 US-Dollar in Kaufkraftparität und einen bei zwei Dollar. Umgelegt auf die Gegebenheiten im Land liegt die niedrigere Linie bei 38 Cent und damit in etwa gleichauf mit der Definition Indiens.

Allerdings zeigt sich an den Weltbank-Daten auch: Andere Länder haben bei der Armutsbekämpfung größere Fortschritte gemacht. Während 1981 noch 22 Prozent der extrem Armen der Welt in Indien lebten, waren es nach den neuesten Zahlen 2010 ganze 33 Prozent. Das aufstrebende Schwellenland, das von Weltkonzernen als Outsourcing-Destination genutzt wird und noch in diesem Jahr eine Mission zum Mars starten will, hat noch immer eine dauerhafte Hungersnot im Land.

Das macht auch Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen wütend und lässt ihn zum derzeit omnipräsenten Interviewpartner werden. Das Wirtschaftswachstum Indiens der vergangenen zwei Jahrzehnte gehöre zu den kräftigsten der Welt, doch die Politik habe vollkommen versagt, dessen Früchte zu verteilen, sagt Sen. Das Land bestehe heute aus "US-kalifornischen Inseln in einem Meer aus Subsahara-Afrika", schreibt er mit Jean Drèze im neuen Buch "An Uncertain Glory: India and it's Contradictions". Von Mahatma Gandhi, der selbst als Armer unter den Armen lebte, ist überliefert: "Armut ist die schlimmste Form der Gewalt."

© Doreen Fiedler/dpa/sebi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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