Arbeitsmarktreform:Verlogene Volksfront

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Überall wird mobil gemacht gegen Hartz IV. Zornig werden Besitzstände verteidigt, vom Kindersparbuch bis zur Lebensversicherung. Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Milbradt stellen sich auf die Seite der Demonstranten - obwohl er die Reformen zuvor unterstützt hatte.

Von Jens Bisky

Leicht kann man in diesen Tagen den Eindruck gewinnen, die Bundesrepublik sei von habgierigen Herren besetzt worden, die den kleinen Leuten ans Portemonnaie wollen. Vor nichts scheinen sie Respekt zu haben: nicht vor Eigenheimen, nicht vor den Sparbüchern der Kinder und auch nicht vor Lebensversicherungen.

Die Nation, die sich noch vor einem Jahr über Florida-Rolf empörte, weil sie dem Sozialhilfeempfänger die Sonne und den Meerblick nicht gönnte, scheint plötzlich nur noch aus Anwälten der Armen und Schwachen zu bestehen.

Bei den Montagsdemonstrationen in ost- und westdeutschen Städten marschieren Vertreter aller Parteien mit, vereint im Unmut gegen Hartz IV. Selbst der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt reiht sich ein, obwohl er vielem selber zugestimmt hat und seine Partei, die CDU, lange Zeit noch drastischere Kürzungen gefordert hat.

Wer nicht auf Sozialabbau und Hartz schimpft, muss offenkundig um seine politische Karriere bangen. So sucht nun jeder seinen Platz in der Volksfront gegen das Arbeitslosengeld II. Mit der Wirklichkeit im Lande und dessen Problemen hat der ressentimentgeladene Protest wenig zu tun.

Hier mischen sich nostalgische Träumereien, Verzagtheit und Ängste vor Verlust zu einer gesamtdeutschen Feier des Staatssozialismus, die durchaus infame Züge gewinnt, weil im Namen der Armen ganz andere Ziele verfolgt werden.

Beliebte Fallgeschichten

Der Deutsche Gewerkschaftsbund prangert Hartz IV mit einer Reihe jener beliebten Fallgeschichten an, von denen keine ganz zu überzeugen vermag. Eine aber ist ein geradezu groteskes Beispiel für jene verzerrte Wahrnehmung, die das Land ergriffen hat. Frau M., 43 Jahre, hat vor einigen Jahren 30000 Mark geerbt, seit drei Jahren ist sie arbeitslos, will ihr Erspartes aber gern behalten. 8600 Euro bleiben ihr nach dem neuen Gesetz, der Rest wird angerechnet.

Ist dies ein Beleg für die gern beschworenen Grausamkeiten? Frau M. beansprucht Hilfen, die aus Steuern finanziert werden, aus Steuern auch der miserabel bezahlten Altenpfleger und Verkäuferinnen, von denen vielleicht viele nie in ihrem Leben 15000 Euro besessen haben. Wer gibt Frau M. das Recht dazu? Und wofür muss sich der Staat rechtfertigen, wenn er die Bedürftigkeit prüft, bevor er Hilfen auszahlt?

Von den neunhunderttausend Sozialhilfeempfängern im Lande, deren Vermögensverhältnisse heute schon geprüft werden, die unter kargen Bedingungen leben und deren Situation sich durch das neue Gesetz bessert, ist erstaunlich wenig die Rede. Viel aber von der Abstiegsangst der Mittelschicht, die inzwischen erkennt, wie bedroht ihr Wohlstand ist. Wo leben wir, dass Menschen, die ein Haus, ein Gartengrundstück, eine Wohnung, eine teure Versicherung erworben haben, die Solidarität jener in Anspruch nehmen, die oft gar nichts besitzen?

Im Zuge der Panik wird gern vergessen, dass das Arbeitslosengeld II nicht als lebenslange Zahlung geplant ist, sondern als kurzfristige Hilfe, um wirkliche Not zu verhindern, Lebenskrisen zu überbrücken. Für die Erhaltung des gewohnten Lebensstandards ist der Staat nicht zuständig.

Die politische Legitimität der Bundesrepublik hängt nicht von Wohlstand und Konsum ab. Dass nun gerade in den neuen Ländern alle Parteien versuchen, von der verbreiteten Staatsgläubigkeit und Opfermentalität zu profitieren, wird die ohnehin schwache bürgerliche Kultur im Osten dauerhaft schädigen. Selbst die CDU nährt hier den Glauben, es sei allein Aufgabe des Staates, Arbeitsplätze zu schaffen.

Der Streit darum, ob die Demonstrationen am Montag zu Recht "Montagsdemonstrationen" genannt werden dürfen, lenkt vom Wesentlichen ab. Revolutionäre Aktionen genießen keinen Markenschutz. Und jeder Vergleich mit dem Herbst 1989 offenbart ohnehin rasch die Schwäche der neuen Protestbewegung.

Routinierte Verwaltung der Arbeitslosigkeit

Im Jahr der Wende gab es wenige, einfache Forderungen nach Veränderung und einen klaren, durch nichts gerechtfertigten Gegner. Und diesmal? Soll die teure, wenig erfolgreiche, kaltherzig routinierte Verwaltung der Arbeitslosigkeit weitergehen wie bisher?

Wieder einmal kann man beobachten, dass staatskapitalistische Erwartungen auch im Westen weit verbreitet sind. Die Bundesrepublik war lange Zeit ein Land, das Urlaub von der Geschichte genommen hatte. Beflügelt vom verständlichen Wunsch, das Elend der Vergangenheit zu überwinden, gestützt vom einzigartigen Wirtschaftswunder wuchs der Glaube, der Staat sei eine Versicherungsanstalt gegen alle Lebensrisiken, wuchs die trügerische Gewissheit, es müsse immer aufwärts gehen. Gegen den Glanz dieser Erfolgsgeschichte kommt keine Reformrhetorik an, erst recht nicht die ungeschickte der Bundesregierung. Dennoch tut sie etwas grundsätzlich Richtiges.

Beunruhigend an den hysterischen Protesten dieser Tage ist der Eindruck, dass die wirklich Schwachen kaum auf die Solidarität der Volksfront werden hoffen können. Der Zorn, so scheint es, würde sich rasch legen, garantierte man den Protestlern die Unantastbarkeit ihrer Schrebergärten und der Sparbücher ihrer Kinder, damit sie darauf ihr kleines Vermögen parken und dennoch steuerfinanzierte Hilfen kassieren können.

© SZ vom 10.08.04 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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