Anleihenmarkt:Verkehrte Welt

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An den Börsen geht es seit Wochen deutlich aufwärts. Demnach scheint es der Wirtschaft glänzend zu gehen. Doch in einer anderen Ecke des Finanzuniversums, am Anleihenmarkt, mehren sich die Alarmsignale.

Von Victor Gojdka, München

Standen bei den alten Griechen wichtige Entscheidungen an, befragten sie das Orakel von Delphi. Mit mehr oder weniger eindeutigen Sinnsprüchen sorgte die Pythia dann für Aufsehen. Ganz ähnlich wie in der Antike sind derzeit auch alle Augen am Finanzmarkt auf ein Konjunktur-Orakel gerichtet. Denn viele Anleger erhoffen sich derzeit Klarheit, die Aktienbörsen in Europa und Übersee scheinen nach dem Einbruch im Dezember schließlich nur eine Richtung zu kennen: aufwärts. Während der deutsche Leitindex Dax seit den Weihnachtstagen knapp zehn Prozent nach oben gespurtet ist, haben die amerikanischen Indizes Dow Jones und der S&P 500 bereits knapp 20 Prozent zugelegt. Angesichts aller konjunkturellen Sorgen und politischen Brandherde fragt sich nun mancher Anleger: Sind die Kursgewinne an der Börse auf Sand gebaut? Als Orakel in Sachen Wirtschaft dienten sich in den vergangenen Tagen gleich zweimal die sonst als langweilig verschrienen Anleihemärkte an. Anleger flüchten derzeit scharenweise in diesen als sicher geltenden Hafen des Anlageuniversums. Die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen der Bundesrepublik sind kurz vor dem Wochenende deshalb ins Negative gerutscht. Das Problem: Sinkende Anleiherenditen deuten oft darauf hin, dass Investoren an trübere Konjunkturaussichten glauben.

Außerdem hat am vergangenen Freitag ein weiterer wichtiger Finanzmarkt-Seismograph ausgeschlagen, wie vor einem Erdbeben in der realen Welt. Die Diagnose: In den USA ist die Zinswelt am Freitag gewissermaßen umgekippt. Denn die Renditen für kurze dreimonatige Staatsanleihen der USA liegen seit Freitag höher als die für zehnjährige Staatsanleihen. Was nach einer technischen Petitesse für einige Finanzmarkt-Profis klingt, ist allerdings ein wichtiges Signal, das jeder Anleger genau beobachten sollte. Denn üblicherweise bekommen Anleger mehr Zinsen, je länger sie dem Staat Geld leihen - schließlich ist ihr Risiko über einen langen Zeitraum ja höher. Nun allerdings gilt diese eherne Grundregel des Anleihemarktes nicht mehr. Einfach gesagt scheint Anlegern derzeit das Risiko auf kurze Sicht höher zu sein als das auf lange Sicht. Jene Diagnose lässt Anleger glauben, dass an den Finanzmärkten aktuell etwas im Argen liegt. "Vor jeder der letzten neun Rezessionen hat sich die Zinskurve auf den Kopf gestellt", sagt ING-Ökonom James Knightley. Die umgekippte Zinskurve gilt damit als eine der besten Krisenindikatoren in Sachen Wirtschaftswachstum. Am Kapitalmarkt hat sie sich deshalb den Ruf als "Kurve des Schreckens" erworben.

Auf jeden Fall sollten Anleger angesichts der verkehrten Welt am Finanzmarkt daher prüfen, wie solide es um den Aktienmarkt bestellt ist.

Der Blick auf die konkreten Wirtschaftsdaten stimmt manchen Aktienexperten dabei skeptisch. "Das wirtschaftliche Umfeld zeigt sich heute schwieriger als vor sechs Monaten", sagt Chris-Oliver Schickentanz, Chef-Anlagestratege der Commerzbank. Die Wirtschaftsweisen in Deutschland haben ihre Wachstumsprognose halbiert, auch die Ökonomen der OECD haben ihren Ausblick für Deutschland rasiert: Die Wirtschaft hierzulande dürfte in diesem Jahr nur noch um 0,7 Prozent wachsen.

Die Anleger allerdings scheinen diese Hiobsbotschaften kaum zu interessieren, denn zumindest an den Aktienmärkten ist von Nervosität kaum etwas zu spüren. Der Spezialindex Vix, der die Schwankungen an den Börsen zu messen versucht, verharrte in den vergangenen Wochen so tief wie seit einem halben Jahr nicht mehr. Dass die Börsen momentan verhältnismäßig unbeschwert sind, kann selbst Aktienexperte Schickentanz kaum leugnen: "Die Anleger gehen momentan davon aus, dass sich alle politischen Krisen in Wohlgefallen auflösen", sagt der Dax-Kenner. Der Handelskonflikt? Wird sich lösen. Der Brexit? Wird schon gut ausgehen. Sollte allerdings eine dieser Krisen erneut hochkochen, böte das erhebliches Unruhepotenzial. Außerdem prognostizieren Experten für das erste Quartal 2019 in den Vereinigten Staaten um 3,5 Prozent sinkende Unternehmensgewinne. In der Zahlensaison der kommenden Wochen dürfte das an den Aktienbörsen kaum für Optimismus sorgen. Manche Experten glauben jedoch, dass es nach so vielen negativen Prognosen nur noch aufwärts gehen könne. "Diese Karte spielt der Markt gerade", sagt Aktienstratege Markus Reinwand von der Helaba. Auch die umgekippte Zinskurve ist keineswegs so eindeutig, wie viele meinen: "Bis zu einer Rezession hat es nach dem Umkippen der Zinskurve meist zwei Jahre gedauert", sagt Commerzbanker Schickentanz. Und manches Mal hat der Finanz-Seismograph in der Vergangenheit sogar einen Fehlalarm geliefert. Es ist wie mit dem Orakel von Delphi: Auch dessen Sprüche waren nicht immer eindeutig.

© SZ vom 27.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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