Aktienmarkt:Heimliche Dirigenten

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Sie ist der Aufsteiger im Deutschen Aktienindex und ersetzt die Lufthansa. Die Deutsche Wohnen ist einer der größten Immobilienkonzerne in Deutschland. (Foto: AP)

Die Lufthansa fliegt aus dem Dax, Deutsche Wohnen geht rein. Börsenindizes spiegeln Kurse und bewegen sie.

Von Victor Gojdka, Frankfurt

Es war inmitten der turbulenten Börsentage Mitte März, als ein Schreiben aus 55 Water Street, New York, fast im allgemeinen Getöse untergegangen wäre. Etwas kryptisch kündigt das Finanzunternehmen S&P Dow Jones darin an, viele seiner Börsenindizes nicht neu zu gewichten. Was nach einer Petitesse für Profis klingt, war eine Milliardenentscheidung: Wer darf in den prestigereichen S&P-Börsenindizes bleiben - und wer fliegt raus? Eine Entscheidung mit Folgen für Hedgefonds, die auf solche Indexrochaden wetten. Und für Millionen Privatanleger, die sich inzwischen mit ihrem Spargeld an den Lauf von Börsenindizes wie den des US-Leitindex S&P 500 heften.

Kaum eine Institution scheint am Finanzmarkt so vertrauenswürdig, neutral und unbestechlich wie die Börsenindizes. Doch Aktienkörbe wie der deutsche Leitindex Dax, der amerikanische S&P 500 oder die Welt-Aktienindizes aus dem Hause MSCI sind längst keine reinen Börsenbarometer mehr, sondern klammheimlich zum Wegweiser für Milliardensummen avanciert. "Passives" Investieren heißt die Strategie, sein Erspartes mit sogenannten ETF eins zu eins an die Fersen eines Index zu heften. Umso mehr sorgt es in der Investmentbranche für Aufregung, wenn ein Indexanbieter wie S&P Dow Jones plötzlich eine aktive Entscheidung trifft und eigentlich turnusgemäße Indexrochaden mitten in der Corona-Krise abbläst und vertagt. Erst Monate später, mit Beginn dieser Woche, lässt er erstmals wieder Unternehmen in den amerikanischen Leitindex S&P 500 rein und raus.

Im Corona-Crash genossen Aktien im amerikanischen S&P 500 plötzlich Bestandsschutz

Studien können zeigen, wie Indexwechsel inzwischen auf einzelne Kurse durchschlagen: dass Aktien mitunter kurzzeitig steigen, wenn sie in einen Index aufsteigen sollen. Und oft fallen, wenn sie weichen müssen. Dass Börsenindizes so inzwischen zu Geldlenkern geworden sind.

Eigentlich sollten die Indexanbieter in diesem Spiel neutral sein. Laut den eigenen Regeln hätte S&P Dow Jones die Mitgliederlisten vieler seiner Indizes am 20. März prüfen müssen, mitten im Corona-Crash. Vermutlich hätte sich manche gebeutelte Aktie nicht mehr im Index halten können. Doch zu viel Hin und Her in ihren Indizes wollte der Indexanbieter vermeiden. Die Begründung: Wären zusätzlich zum Börsenkrach auch noch Auf- und Abstiege in den Indizes angesagt gewesen, wären die Schwankungen noch größer ausgefallen. Aus Anlegersicht klingt das nachvollziehbar, und so unterstützen viele Stimmen bei den ETF-Anbietern die Entscheidung: "Dass man in diesem Stressszenario zusätzliche Turbulenzen vermeiden wollte, ist sicher in Ordnung", sagt Sophia Wurm vom Anbieter SPDR ETF.

Doch seine Entscheidung hat dem Indexriesen auch Kritik eingebracht. Manche stellen sich in den Finanzzentren nun die Frage: Haben Indexanbieter wie S&P Dow Jones im März ihre Kompetenzen überschritten? Denn statt die schlechte Lage an den Börsen schonungslos abzubilden und massiv geschrumpfte Unternehmen aus dem Index zu bugsieren, haben die Krisenfälle eine Art vorläufigen Bestandsschutz im Index erhalten. "Die Regeln einfach beiseite zu lassen ist ganz klar eine aktive Entscheidung", kritisiert Gareth Parker vom Indexanbieter Moorgate Benchmarks seine Konkurrenten im Fachdienst ETF Stream. Der Indexanbieter S&P Dow Jones kann sich formell jedoch auf eine Klausel in seinen Indexregeln berufen: Dort heißt es, das Indexkomitee behalte sich das Recht vor, Ausnahmen von Regeln zu machen.

Schon 2017 war die Entscheidungsmacht der Indexmacher klar geworden, als das Social-Media-Unternehmen Snap Aktien ohne Stimmrecht auf den Markt warf. Während die Befragten in einer Umfrage des Indexanbieters FTSE Russell Unternehmen mit weniger als 25 Prozent Stimmrechten für die Streubesitz-Aktionäre aus dessen Indizes ausschließen wollten, drückte der Indexanbieter die Quote selbst auf fünf Prozent. Seit einiger Zeit rücken Indexanbieter daher stärker in den Fokus europäischer Aufseher.

© SZ vom 22.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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