Trend:Hauptsache handfest

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Bitte recht großväterlich: Der rustikale Lederhenkel ist mittlerweile zum Erkennungszeichen für junges Design geworden.

Von Max Scharnigg

Das Restaurant "108" in Kopenhagen ist für anfällige Kreise derzeit so was wie ein stilistischer Herzschrittmacher, sprich: ganz wichtige Impulse kommen von da. Essen, Einrichtung, Besteck und die sogenannte Tableware des Betriebs wurden in Blogs und Magazinen ausführlich seziert. Nicht zuletzt wohl, weil die Stilwelt die Erfahrung gemacht hat, dass ein hippes Restaurant in Kopenhagen heute oft mehr verkauft als nur Essen - im Zweifelsfall gleich noch eine ganz neue Lifestylephilosophie. Tatsächlich dekliniert das mondäne 108 in seinen Räumen mustergültig die neuen Interieur-Regeln, kombinierte Sichtbeton, dunkles Nussbaumholz, reeditierte Scandi-Stuhldesigns und riesige Glasballons als Deckenleuchten. Auch dabei: handgefertigte, dick zwiegenähte Ledertaschen im Farbton Cognac, in denen das (eigens entworfene) Besteck auf den Gast wartet. Die Speisekarte ist dazu auf einem Klemmbrett befestigt, das ebenfalls in braunes Leder gekleidet wurde. Dieses Zubehör bei Tisch sieht aus, als sollte man es in eine Satteltasche packen und damit wegreiten, als müsste es jedenfalls deutliche härtere Strapazen bestehen, als nur zivilisiert herumzuliegen. Und es unterstreicht, wie wichtig hochwertige Lederapplikationen für den aktuellen Zeitgeist im Allgemeinen sind und für das Design von nettem Schnickschnack im Besonderen.

In den weitläufigen Accessoires-Hallen der Pariser Designmesse wurde das schon zu Beginn des Jahres deutlich - die Lederschlaufe war dort ein omnipräsentes Erkennungszeichen des jungen Designs. Sie war an Küchenschneidbretter ebenso überraschend angewachsen wie an Garderoben; Lederlaschen sollten auf einmal dünne Regalbretter in der Küche tragen, Kleiderstangen im Schlafzimmer, schöngeistige Magazine im Wohnzimmer oder sogar Weinflaschen am Fahrrad. Letzteres wird in der Praxis eher selten geschehen, aber die Idee und vor allem eben das Material genügen, um beim Betrachter einen wertigen Eindruck zu hinterlassen. Das ist die seltsame Magie von braunem Leder - man will es anfassen und ihm beim langsamen Patinieren zusehen, es verströmt immer eine Atmosphäre der Dauerhaftigkeit.

Vielleicht erinnert es auch nur an die alten Lederecken von Turnmatten in der Schule

Wohl deshalb ist es für Möbelhersteller und Produktdesigner heute zum probaten Geschmacksverstärker geworden, mit dem sich nahezu jedes Produkt veredeln lässt, egal, ob die Lederlasche nun einen funktionalen Zweck erfüllt oder nicht. An einem neuen Hocker des dänischen Holzmöbel-Großherstellers Karup etwa baumelt die Lederquaste wie ein vergessenes Etikett und dient nicht mal vorgeblich dem Transport. Die Ledergriffe auf den Bluetooth-Boxen des skandinavischen Hi-Fi-Spezialisten Audio Pro sollen wohl die Mobilität der kleinen Musikbox unterstreichen - geschulte Designeraugen sehen darin eher eine Verschandelung des Entwurfs, der ohne Henkel kompakt und pur gewesen wäre. Auch Konkurrent Bang & Olufsen kombiniert seine Hightech-Geräte in den letzten Jahren gerne mit Ledergriffen und Kordeln. An einem elektronischen Produkt zeigt sich, was Leder kann: Ein simpler Streifen davon verleiht auch nicht besonders langlebiger Unterhaltungselektronik einen ehernen Anstrich und wertet selbst Luxusgeräte haptisch noch auf. In einer Welt, in der alles mit Fernbedienung und Touchscreen geregelt wird, ist ein rustikaler Lederhenkel eben der analogste Gegensatz, den man sich vorstellen kann. Ob in der Küche oder auf dem Couchtisch, er simuliert eine handfeste Authentizität, die vielen Alltagsgegenständen heute eigentlich abgeht.

Wohl auch deshalb ist einer der häufigsten DIY-Tipps die durchs Netz kursieren, Griffe an Schränken oder Kommoden gegen Lederschlaufen zu tauschen. Der Effekt dieses kleinen Umbaus ist erstaunlich, schon sieht das ödeste Spanplattemöbel aus wie, ja was eigentlich? Eine Mischung aus Nomaden-Überseedampfer-Vintage-Pferdenummer-Abenteuer-Requisite. Also genauso, wie moderne Gemütlichkeit daheim heute aussehen soll. Vielleicht erinnert es auch nur an die alten Lederecken von Turnmatten in der Schule oder korrespondiert mit der edlen Weekender-Tasche und dem Brooks-Sattel, die beide im urbanen Stil-Kanon obligatorisch geworden sind. Egal wo, Leder an Accessoires trägt immer die Botschaft eines alten Koffers: Benutz mich, stoße mich ab, erlebe was! Selbst Ikea hat jetzt auf den Trend reagiert und bietet neuerdings mit "Östernäs", was man sich vorher mühsam aus alten Gürteln zurecht schneiden mussten: feine Rindsledergriffe, zur freien Verpflanzung an alles, was ein bisschen Charme nötig hat.

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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