Nachruf:Aus der Zeit gefallen

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Die Modewelt trauert um den französischen Couturier Azzedine Alaïa. Sie verliert einen ihrer letzten Zauberer, der Kleider wie eine zweite Haut zu schneidern verstand - und sich keinem Branchendiktat unterwarf.

Von Silke Wichert

Vor ein paar Monaten saß man noch mit ihm am Küchentisch. Es gab Salat und gefüllten Chicoree, danach Hühnchen mit Sonnenweizen. Einfache Hausmannkost, sicher köstlich, aber die Wahrheit ist: So richtig kann man sich nicht erinnern. Denn wichtiger als das Essen war an diesem Tag in seinem Pariser Atelier, alles andere dort aufzusaugen. Die Atmosphäre, die Gesten, die Gespräche am Tisch.

Azzedine Alaïa hätte das nicht gefallen. Mahlzeiten waren ihm heilig. Nicht in der Form, dass man sie künstlich zelebrieren und jeden Bissen lautmalerisch kommentieren musste. Sondern weil Nahrung für ihn zu den elementaren Dingen des Lebens gehörte, die es zu würdigen und kultivieren galt. So wie Kleidung für ihn nicht einfach nur notwendig, sondern eine Form von körperlicher Geborgenheit war, der er sich mit einer Leidenschaft widmete, die einzigartig war und so nun nicht mehr existiert. Azzedine Alaïa ist in dem Haus in Paris, in dem er lebte, kochte und arbeitete, vergangenen Samstag gestorben.

Der tunesisch-französische Designer wurde 77 Jahre alt, oder 82 - die Angaben variieren, denn er gab sein Geburtsjahr stets nur mit "zirka 1940" an und lächelte Nachfragen weg. Er wisse es selbst nicht mehr so genau, was spiele das schon für eine Rolle, und natürlich hatte er auch damit wieder Recht. Egal wie alt dieser 1,58 Meter kleine Mann in Wirklichkeit war - was ändert das an diesen umwerfenden Kleidern? Diesen unverkennbaren Lycra-Nummern, die den Körper sanft zurechtweisen?

Im Grunde war Azzedine Alaïa sowieso längst aus der Zeit gefallen, so wie er Mode verstand und entwarf. Er scherte sich weder um Schauenkalender noch um Auslieferungstermine, erst recht nicht um das immer schneller werdende Business, das ständig neue Kollektionen verlangt. Seine Sachen müssten "reif" sein, sagte er damals nach dem Essen. "So wie eine gute Ernte. Aber das erfordert nun mal: Zeit." Es klang wie das Einleuchtendste der Welt und verstößt doch gegen alle Regeln des Modebetriebs, der nach immer mehr Output in immer kürzeren Intervallen verlangt.

In einem Punkt sind sich rückblickend alle Würdigungen einig: Alaïa war der Einzige, der sich dem System widersetzen konnte, und dem trotzdem oder gerade deswegen alle zu Füßen lagen.

Die Frage ist nach dem Tod dieses Couturiers deshalb nicht, wer aus der Modewelt kondolierte, sondern: Wer nicht? Von Supermodels über Chefredakteure bis zu namhaften Designern trauert die gesamte Branche auf Social Media. Die Online-Seite Business of Fashion stellte zwei Dutzend Zitate zusammen, von Miuccia Prada über Marc Jacobs bis Jean Paul Gaultier. Bei kaum jemandem saßen so viele Designer-Kollegen in den - spärlich stattfindenden - Präsentationen. Genauso wie in keinem anderen Modehaus so viele Prominente gegessen und getrunken haben: Kim Kardashian, Beyoncé, Julian Schnabel und natürlich Naomi Campbell, die zu Anfang ihrer Karriere bei "Papa" wohnte, wie sie ihn liebevoll nannte. Und neben den berühmten Gästen saßen namenlose Fitting-Models oder der Praktikant des Hauses. "Chez Alaïa" waren alle irgendwie gleich.

Nur der Hausherr selbst thronte stets am oberen Tischende, in seiner leicht verblichenen chinesischen Arbeiteruniform mit Mao-Kragen. Hinter ihm ein fast unerhört profaner Flatscreen, gegenüber der riesige rote Fleischwolf. Er lauschte mehr, als dass er das Gespräch lenkte, und oft kicherte er einfach still in sich hinein. Dann sah er geradezu kindlich aus.

Alle, die ihn kannten, schwärmen jetzt von Azzedine Alaïa als Freigeist. Der keine Kompromisse machte (Stylistin Katie Grand) und keinen Trends folgte (Riccardo Tisci), der in jeder Hinsicht unabhängig blieb (Erdem). Weshalb man natürlich einmal fragen könnte: Warum wagt es sonst keiner? Warum blickt ihr wehmütig auf eine Idee von Mode, die nun verloren geht, und versucht nicht, sie zu bewahren?

Natürlich gibt es weiterhin unabhängige Designer, die nicht zu großen Luxus-Gruppen gehören. Dries van Noten etwa oder Rei Kawakubo von Comme des Garçons, obgleich selbst sie ein Stück näher am "Fashion System" arbeiten als es Alaïa tat. Ironischerweise gehört seine Marke sogar zum Schweizer Richemont-Konzern, der das Haus 2007 kaufte und auch Labels wie Chloé oder Cartier besitzt. Trotzdem ließen sie ihn gewähren, "pressten die Marke bislang nicht aus", wie es in der Branche heißt - weil Alaïa nun mal Alaïa war, der sich von niemandem etwas sagen ließ. Was man jedoch über all die Schwärmerei und Bewunderung leicht vergisst: Er hat sich diese Freiheit hart erarbeitet.

Der Sohn eines Weizenbauerns wuchs in Tunis auf. Mit 16 verschwieg er sein Alter, um Bildhauerei zu studieren, weshalb ein Kennzeichen seiner Kleider später immer das Modellierte war anstelle von Dekoration. Über seine Schwester landete Alaïa in einem Schneideratelier und fertigte die damals üblichen Kopien der großen Designer für Damen der feinen Gesellschaft an. Sein Ruf war so gut, dass eine Freundin der Familie ihn 1957 in Paris bei Dior empfahl. Doch nach fünf Tagen setzten sie ihn dort wieder auf die Straße. Der Algerienkrieg war noch in vollem Gange, nordafrikanische Männer hatten keinen leichten Stand.

Die folgenden Jahre arbeitete er als Haushälter bei einer reichen Familie und fertigte für die Frauen, die dort ein- und ausgingen, gelegentlich Kleider an. Nach Stationen bei Guy Laroche und Thierry Mugler eröffnete er in den Siebzigerjahren ein kleines Atelier, Greta Garbo war Kundin. Erst in den Achtzigern begann er mit Ready-to-wear und wurde durch seine Kapuzenroben für Grace Jones, die Lederkostüme für Tina Turner weltberühmt.

Aufnahmen aus dieser Zeit zeigen ihn inmitten all der Supermodels, Claudia, Christy, Cindy und Naomi. Doch er war weit entfernt vom Pomp eines Gianni Versace. Alaïa konnte diese Mädchen gar nicht bezahlen - sie liefen für ihn, weil sie sich um seine Kleider rissen. Als seine Schwester in den Neunzigerjahren starb, entwarf er einige Jahre fast gar nicht. Sein Atelier konnte er durch Stammkunden erhalten, zeitweise investierte Prada in seine Marke, aber finanzielle Sicherheit gab es erst, als Richemont einstieg. Angebote anderer Häuser, etwa von Dior, hatte er stets abgelehnt. "Ich habe alles, was könnten sie mir bieten?", begründete er seine Entscheidung. In den vergangenen Jahren stiegen die Umsätze auf rund 50 Millionen Euro, weil seine Entwürfe noch deutlicher herausstachen, je mehr Durchschnittliches die Branche produzierte. Wer etwas Einmaliges, perfekt Sitzendes suchte, ging zu Alaïa. Dort wurde stundenlang drapiert und gesteckt. Kaum ein Designer macht heute noch alle Arbeitsschritte selbst. Zeitweise hielt Alaïa sich eine Eule als Gefährten in der Nacht.

Womöglich hat auch genau deshalb kein anderer Designer mehr die Chuzpe, nur seinen eigenen Regeln zu folgen: Weil fast niemand über eine ähnlich unverkennbare Handschrift verfügt und über das handwerkliche Können, um Kleider zu entwerfen, die ihresgleichen suchen: Körpernahe Kunstwerke, Schößchenjacken oder glockig fallende Röcke aus Jersey, Strick, Leder. Alaïas Kollektionen wirken manchmal unspektakulär, viele Entwürfe sind Variationen der immer gleichen Form. Alaïa war Perfektionist, der Nähte millimeterweit versetzte, bis sie an der richtigen Stelle saßen. Der Effekt offenbart sich erst beim Tragen. Viele Frauen würden deshalb, wenn sie sich 2000-Euro-Kleider leisten könnten, immer nur Alaïa tragen.

Wer führt das Erbe weiter? Richemont dürfte immer mal wieder Zukunfts-Szenarien durchgespielt haben. Phoebe Philo von Céline soll vor einigen Jahren als Nachfolgerin im Gespräch gewesen sein, Gerüchten zufolge sieht man die Engländerin aber eher demnächst bei Burberry. Es ist jedenfalls kaum vorstellbar, dass der nächste Designer ähnliche Freiheiten genießt. Vor kurzem eröffnete eine neue Londoner Boutique, eine weitere ist in Dubai geplant. Der Tod von Azzedine Alaïa wird der Anfang eines neuen Alaïa sein, dessen Ernte sehr viel ertragreicher werden könnte.

Nächstes Jahr erscheint im Rizzoli-Verlag ein Buch mit Gesprächen zwischen berühmten Persönlichkeiten wie Isabelle Huppert und Bob Wilson, Jony Ive und Marc Newson. Auch mit Azzedine Alaïa wurde noch ein Interview geführt, zusammen mit dem Pariser Kulturkritiker Donatien Grau. Der Titel des Buches könnte für dieses letzte Vermächtnis passender nicht sein. "Taking Time." Sich Zeit nehmen.

© SZ vom 25.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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