Möbel:Die Wohnmacht

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Seit 75 Jahren gibt es Ikea, vor 60 Jahren wurde das erste Einrichtungshaus eröffnet. Höchste Zeit für einen Besuch bei der großen Weltverbesserungs­maschine in Älmhult.

Von Max Scharnigg

Zugfahren bei uns ist wie in Indien", sagt der leidgeprüfte Schwede am kleinen Bahnhof in Killeberg. Klingt nach Quatsch, stimmt aber. Denn eigentlich würde man vom Flughafen Kopenhagen nur 90 Minuten nach Älmhult brauchen, aber jetzt sind es schon vier Stunden, mit hektischen Gleiswechseln und zwei ungeplanten Stopps. Der letzte Zug quittierte einfach den Dienst und entließ seine Gäste mit freundlich-ungewisser Prognose in den südschwedischen Wald. Da stehen: TV-Teams aus Hongkong und Südkorea, straffe Designjournalisten aus Frankreich und den USA, aufgedrehte Style-Bloggerinnen aus Russland, Italien und Blankenese, und sie alle versuchen, die App der schwedischen Bahn zu verstehen, die zwar ein herausragendes Interface hat, aber eben trotzdem nicht weiterweiß.

Es wird also spät, bis der letzte Multiplikator in Älmhult eintrifft. Zum 75. Geburtstag hat Ikea zur dreitägigen Mega-Pressekonferenz geladen, die natürlich nicht so heißt, sondern "Days of Democratic Design" und die nahezu das ganze Städtchen Älmhult in Beschlag nimmt. Was aber nicht sonderlich auffällt, da es seit mehr als einem halben Jahrhundert sowieso hauptsächlich Ikea-Town ist. Der Konzern betreibt hier in Südschweden sein Headquarter, diverse Konzerntöchter haben ihren Sitz hier, genau wie das Ur-Möbelhaus von 1958, ein Museum, Test-Areale und auch die Kulissen, in denen immer noch die Musterwohnungen für den Katalog fotografiert werden. Ivar, Billy, der kleine Inbusschlüssel und das komisch amorphe Männchen aus der Aufbauanleitung mit seinem Fragezeichen über dem Kopf - all diese Lebensbegleiter kommen aus Älmhult.

Wer würde denn Möbel kaufen, die er auch noch selbst aufbauen muss? Eine Zumutung!

Denn hier in Småland begann 1943 ein schmaler 17-Jähriger namens Ingvar Kamprad Kugelschreiber und Streichhölzer zu verkaufen und diesem sehr kleinen Geschäftsmodell erst mal einen abstrakten Namen zu verpassen, der sich aus seinen Initialen, denen des elterlichen Bauernhofes Elmtaryd und des nächsten Dorfes Agunnaryd zusammensetzte. Mit Fotos aus dieser Zeit beginnt die Ausstellung im Ikea-Museum. Und ein wenig zeigt diese großspurige Namensfindung auch schon die selbstbewusste Hellsichtigkeit, die letztlich zu einem Konzern mit fast 200 000 Mitarbeitern geführt hat, der heute als Nebengeschäft unter anderem eine Milliarde Fleischbällchen pro Jahr verkauft.

Schaut man im Museum aus einem der bodentiefen Fenster, dann erkennt man die größte Leistung dieses jungen Kaufmanns: Daran zu glauben, dass sich ausgerechnet aus einer derartigen Provinz die Art und Weise verändern lässt, wie die Menschen auf der ganzen Welt wohnen.

Schon der winzige Schuppen, in dem Kamprad damals seine ersten Produkte lagerte, trug jedenfalls jenes Logo, das heute Synonym für irgendwie günstige, irgendwie brauchbare Raumausstattung ist. Dabei waren Möbel zunächst gar nicht vorgesehen, das Kramladen-Sortiment wurde erst um preisreduzierte Postkarten, Geldbörsen und Nylonstrümpfe erweitert, die mit dem Milchwagen zum Bahnhof nach Älmhult transportiert und dann verschickt wurden - seine Kunden informierte Kamprad in den ersten Jahren vom heimischen Telefon aus. Erst 1948 kamen einfache Möbel dazu, die von Schreinern aus der Umgebung gebaut wurden. Der Siegeszug des privaten Pkw und insbesondere seines Kofferraums führten schließlich zum historischen Ikea-Moment: Einer der ersten Designer, die Kamprad anheuerte, montierte von einem fertigen Tisch die Beine wieder ab, um ihn in einen kleinen Kofferraum zu schieben - geboren war die Flatpack-Strategie. Möbel wurden verschickbar, 1951 legte Kamprad dazu den ersten Katalog auf, der bis heute das Marketing-Rückgrat des Unternehmens darstellt - Auflage zuletzt 200 Millionen Stück. Als vor 65 Jahren schließlich das erste Einrichtungshaus in Älmhult eröffnet wurde, fragte sich das schwedische Fernsehen noch, wer denn wohl Möbel kaufen würde, die er daheim selbst aufbauen musste? Eine Zumutung! Eine Zumutung, die von Anfang an ziemlich viele Kunden auf sich nahmen.

Der Ohrensessel von Ikea ist seit einigen Jahren wieder im Sortiment.

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(Foto: Ikea)

Schwedisches Original: Das Modell aus dem Jahr 1951.

Stehleuchte von Ikea im Stil der Fünfzigerjahre.

Fast wie früher: Deckenlampe mit Retro-Charme.

"Pass auf, das wird hier die nächsten Tage ein bisschen sektenartig", flüstert die Kollegin vom holländischen Architekturmagazin, die den Pressemarathon schon mal mitgemacht hat. Tatsächlich, die vielen Ikea-Mitarbeiter im Headquarter wirken leicht glücksverstrahlt. Jedenfalls sehen sie auf eine skandinavische Art alle gleich jung und zeitgeistig aus, sitzen in den bunt möblierten Zimtkringel-Zonen des Gebäudes herum und rufen auch dem vierhundertsten Journalisten noch fröhlich "Hej, Hej!" zu, was zwar schwedisch ist, sich aber insgesamt sehr kalifornisch anfühlt. Der Tagesablauf wird jedem Gast via App minutengenau mitgeteilt: Workshops, Kurzseminare, Talkrunden, Lunchvortrag - die Themen sind so vielfältig, wie es man es von einem Universalkonzern erwartet. Die Botschaft ist aber, egal ob es um neue Kollektionen oder die Arbeitsweise des Konzerns geht, immer nahezu dieselbe: Ikea sorgt sich um deine Zukunft. Ikea möchte deine Welt retten. Ikea ist dein bester Freund.

Jeder Vortrag enthält dazu die immer gleichen Signalwörter - People, Planet, Happiness, Children, Play, Health, Nature, Sustainability, Democratic Design - sie fallen den betont hemdsärmeligen Designern und Managern in perfekter Rhetorik aus dem Mund. Dazu laufen Gänsehaut-Videoclips, in denen kaum Produkte, dafür aber fröhliche Alltagsmenschen in sehr vielen Hautfarben zu sehen sind. Nach ein paar Stunden in diesem Intensivwaschgang hat man tatsächlich das Gefühl, dass es hier nicht mehr um neue Küchenstühle und Kinderbetten geht, sondern Ikea mittlerweile eigentlich an Uno-Themen arbeitet: Migration (Ikea hilft mit seinen Shelter-Hütten und beschäftigt Frauen in Flüchtlingslagern in Jordanien), Klimawandel (Ikea testet Produkte aus Reisstroh, um dessen Verbrennung zu verhindern, setzte früh auf LED-Birnen), Wasserknappheit (ein spezieller Hahneinsatz soll bald sagenhaft viel Wasser sparen, bei gleichem Strahl), Zugänglichkeit (alles wird noch billiger, trotzdem leidet angeblich keiner der Hersteller darunter), Afrika (diverse Solarprojekte). Und so weiter. Am Abend ist jedenfalls allen klar: Es gibt eine riesige Weltverbesserungsmaschine, die steht in einem Wald in Schweden und duzt jeden.

Klar, man will auch verkaufen, ein Umsatz von 38 Milliarden Euro macht sich nicht von allein. Aber eigentlich geht es hier vorrangig darum, wie man mit der Verantwortung umgeht, in Millionen Menschleben jeden Tag eine im wahrsten Sinne tragende Rolle zu spielen. Und in 403 Botschaftsgebäuden auf der ganzen Welt (nur in Südamerika gibt's noch keinen Ikea, der erste soll 2020 in Chile eröffnen) fast eine Milliarde Besucher pro Jahr zu empfangen. Man ist sich in Älmhult nach 75 Jahren sozusagen der Weltherrschaft bewusst, die man via Birke-Furnier und Klippan-Sofa errungen hat.

Firmengründer Ingvar Kamprad mit den Ikea-Erkennungszeichen – Karton und Logo. (Foto: Ikea)

Es mag die einlullende skandinavische Kulisse sein, aber das Engagement nimmt man dem Konzern eher ab als anderen Unternehmen dieser Größenordnung. Viele der neuen Maßnahmen und Ziele scheinen sinnvoll und dabei auf angenehme Art radikal gedacht. Und klar, in den Größenordnungen, in denen Ikea produziert und verkauft, hat jede Materialinnovation, jedes neue Recycling, jeder vermiedene Abfall gleich eine sagenhafte Strahlkraft. Für die Küchenfronten "Kungsbacka" etwa wurden letztes Jahr elf Millionen alte 0,5- Liter-Plastikflaschen verarbeitet. Die große LED-Offensive spart heute im Jahr geschätzt 3,3 Milliarden Kilowattstunden Strom ein. Man ist hier im Wald stolz auf diese gewaltigen Hebel. Und bemüht sich trotzdem, so zu tun, als würde man immer noch einen kleinen Nachbarschaftsladen betreiben.

Ikea will in Zukunft so cool sein, dass es sich fast nicht mehr wie Ikea anfühlt

Abends müssen die Gäste an den Stadtrand spazieren, wo der Konzern wie ein leicht linkischer Mittelständler zum Grillfest bittet. Es gibt Bio-Lachs und Bier in Flaschen, dazu tritt eine Hip-Hop-Band aus Brooklyn auf, und kurzzeitig scheint das Leben tatsächlich so bunt und fröhlich wie in den Imagefilmen. Dann werden Hipster-Hüte verteilt, gemacht aus kultigen blauen Ikea-Taschen, und die Kooperationen für die nächsten Jahre vorgestellt. Endlich geht es mal konkret um Produkte, große Namen kommen auf die Bühne: Adidas. Lego. Der Designer Stefan Diez. Der Künstler Ólafur Elíasson. Die Hipster-Parfummarke Byredo. Unausgesprochene Botschaft: Ikea-Sein ist toll. Aber Billy-Regal und heimische Kartonschlacht reichen nicht mehr. Es wird demnächst einen Wlan-Lautsprecher bei Ikea geben, auf dem Sonos steht. Es wird einen Fake-Perser des gefeierten US-Modedesigners Virgil Abloh geben, auf dem subversiv "Keep Off" eingewebt ist. Eine durchgeknallte Kollektion extra für Millennials, eine von Beyonce-Schwester Solange Knowles und sogar eine für professionelle Computerspieler. Dann spielt wieder die Hip-Hop-Band, die Ikea-Angestellten tanzen und sehen dabei ein bisschen aus wie die amorphen Männchen aus der Aufbauanleitung.

Es ist vielleicht das einzige Problem, das jetzt zum Jubiläum am Horizont dieser ewigen Erfolgsgeschichte auftauchen könnte. Ikea will so cool sein, dass es sich fast nicht mehr wie Ikea anfühlt. Dabei hatte das Unternehmen mit seinen Produkten doch gerade jene Form der Gelassenheit erreicht, die jedem 75-Jährigen gut steht. Man war endlich jenseits der ewigen Billig-, Kopie-, Aufbau-Witze angekommen. Irgendwie fühlte sich die Marke seit der ersten eigenen Wohnung doch fast an wie ein Elternersatz - nicht besonders lässig, aber eben lebenswichtig. Man hat das blaue Einrichtungshaus nun mal als Funktionsort akzeptiert, den man je nach Kondition ein bis zehnmal im Jahr aufsucht. Um den nächsten Lebensabschnitt zu möblieren oder ein altes Nutzmöbel durch ein neues zu ersetzen. Nicht ganz freiwillig tritt man diese Ausflüge an die Peripherie an, nicht ganz glücklich schiebt man das zur Kasse, was man beim schwedischen Triathlon (Ausstellung - Kleinzeughalle - Fundgrube) ergattern konnte. Aber es ist dann auch wieder alles so angenehm egal da, alles so schön viel Materie fürs Geld. Man hat die Marke akzeptiert, als großen Retter in vielfältigen Nöten, und manche Produkte hat man bisher ohnehin noch nie woanders gekauft (Servietten, Aufbewahrungskisten, Teelichter, Türmatten, Küchenkleinzeug, Kleiderschränke etc.).

Werden es die jungen Individualisten dem Konzern danken, dass er sie so umwirbt?

Die bevorstehende Aufladung mit Subkultur und Fremdmarken könnte die Sache in Zukunft unnötig kompliziert machen. Es ist ein wenig, als würde ein angenehm ruhiger Nachbar auf einmal mit Ausdruckstanz und Schlagzeug anfangen. Wieso, fragt man sich, muss denn jetzt auch die Massenmöbelware an der Autobahnauffahrt cool werden, wozu muss man da die Designernamen auf dem Preisschild buchstabieren? Werden die jungen Individualisten es dem Konzern danken, dass er sie jetzt so kräftig umwirbt? Muss auch der Ausflug zu Ikea künftig ein Akt der Popkultur sein und Insta-tauglich?

Nun, die indirekte Antwort auf diese Fragen lautet vermutlich: H&M. Man will in Älmhult nicht in die gleiche Falle tappen wie der andere schwedische Großausstatter, dessen Umsatz gerade sagenhaft zurückgeht. Weil Marke und Produkte irgendwie banal und gesichtslos geworden sind und man die Zielgruppe vor lauter Erfolg und Masse aus den Augen verloren hat. Deswegen gibt es also demnächst Adidas und Virgil Abloh bei Ikea, deswegen an diesem Abend Hip-Hop für die Blogger und dazu noch die aufwendig entwickelten vegetarischen Hotdogs, die seit Neuestem hinter der Kasse auf die Kunden warten. Denn so viel hat man bei Ikea längst begriffen: In der Zukunft, da geht es auch um die Wurst.

© SZ vom 24.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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