Keramik-Boom:Der gute Ton

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Möglichst authentisch, möglichst rustikal: Getöpfertes hat die feinen Tische und Schaufenster erobert. Damit wird uralte Handwerkskunst auf einmal wieder hip.

Von Christine Mortag

Gut im Geschäft war er immer schon. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Matthias Kaiser aus der Steiermark als Keramik-Künstler. Galerien in London, Tokio oder Melbourne stellen seine Arbeiten aus, die amerikanische Vogue hat über ihn berichtet. Jetzt aber kann er sich vor Aufträgen kaum retten. Vor allem seine rustikalen Teller, Tassen und Schalen aus Steinzeug sind gefragt. Das Wiener Szenerestaurant Mochi hat gleich mal die komplette Geschirr-Ausstattung geordert.

Eigentlich könnte er froh sein. Doch Matthias Kaiser hadert: "Ich komme überhaupt nicht mehr hinterher mit der Produktion." Bis so ein typischer Matthias-Kaiser-Teller fertig ist, vergehen zwei Wochen. Die braucht er fürs Formen, Brennen, Trocknen, Glasieren und noch mal Brennen.

Es geht nicht nur ihm so. Einrichtungsläden und Designstores verkaufen plötzlich jede Menge handgefertigter Keramik, bei der kein Teil dem anderen gleicht, Food-Magazine platzieren ihre Gerichte auf unebenen und grob glasierten Tellern aus Steingut. Und egal, ob das berühmte Sternerestaurant Noma in Kopenhagen, der Japaner Koi in München oder ein kleines Café wie Heimathaven in Oldenburg, man bekommt den Eindruck, als gäbe es moderne und junge Küche nur noch auf Geschirr, das aussieht, als hätten die Gäste selbst an der Töpferscheibe gesessen. Sogar das Severin's auf Sylt, neuestes und teuerstes Hotel der Insel, serviert seine Ravioli von der Ochsenbacke nicht auf dünnem Porzellan, sondern in dickwandigen Schalen aus der Serie "A la Plage" von ASA Selection.

Geschirr, das aussieht, als hätten die Gäste dafür selbst an der Töpferscheibe gesessen

Musste es, und das ist noch gar nicht so lange her, für gehobenes Essen unbedingt strahlend weißes, möglichst durchscheinendes und perfekt geformtes Fine Bone China sein, ist jetzt irdene, krumme und unperfekte Tableware der Blickfang auf den wichtigen Tischen.

Das ist vor allem bemerkenswert, weil Töpferware bisher eher selten mit Trendchic assoziiert wurde. Viel mehr hatte man dabei Bilder von eher plumpen Erzeugnissen im Kopf, die in Kreativworkshops auf La Gomera angefertigt wurden und mehr als Entspannungsübung denn als ernsthafte Essunterlage gedacht waren. Damit tut man der Keramik aber gewaltig unrecht: Töpfern ist eine der ältesten handwerklichen Tätigkeiten überhaupt, die in China schon vor etwa 18 000 Jahren ausgeübt wurde, wie Funde von Tongefäßen beweisen. Die zum Teil sehr grobe Keramik mit den vielen Unregelmäßigkeiten oder den absichtlichen Rissen in der Glasur, die man gerade überall sieht, sind auf uralte Techniken in der japanischen Keramikkultur zurückzuführen. Dellen sind kein Fehler, sondern ein Qualitätsmerkmal.

Daran musste sich auch Matthias Kaiser erst gewöhnen. Nach seinem Keramikstudium an der Parsons School of Design in New York ging er nach Japan, um bei zwei Keramikmeistern die hohe Kunst der traditionellen Fertigung zu erlernen. "Zuerst habe ich überhaupt nicht verstanden, was an einer Teeschale mit Dellen besonders gut sein soll", sagt er. "Doch sie sind Teil der asiatischen Keramikphilosophie, weil sie symbolisieren, dass auch der Mensch nicht perfekt ist."

Der Däne Anders Arhoj gründete seine Keramikmarke Studio Arhoj 2006 in Tokio. Inzwischen ist er mit seinem Atelier zurück in Kopenhagen. Neben den klassisch unebenen Tellern und Schüsseln fertigt er Becher, die nur zur Hälfte in eine Glasur getaucht werden. Gerade das Unfertige ist ein Qualitätsmerkmal. (Foto: Studio Arhoj)

Die Erhebungen entstehen, wenn man ungereinigten Ton verwendet, in dem auch andere Stoffe enthalten sein können, wie Eisenerz, Sand und Quarz, die dann beim Brennen für die Unregelmäßigkeiten sorgen. In Japan nennt man solche Einschlüsse Tsuchi-aji, was so viel wie "Würze, Geschmack des Tons" bedeutet.

Dass Keramik gerade jetzt wieder eine Sternstunde erlebt, hat mit all den anderen Lifestyle-Strömungen zu tun, die in letzter Zeit so durch die Gegend irrlichtern: Überall wird altes Handwerk wiederentdeckt. Dann ist es grundsätzlich immer gut, wenn etwas Tradition hat, und aus der Natur kommt. Ursprünglicher als bei Keramik geht es kaum: Es wird etwas hergestellt aus dem, was die Erde hergibt, gepaart mit den anderen Elementen Feuer, Wasser und Luft. Und im Zuge der anhaltenden Do-it-yourself-Welle finden Keramikkurse wieder regen Zulauf - nach Gärtnern, Kochen, Backen und Nähen.

Matthias Kaiser wundert das nicht: "Wer die meiste Zeit virtuell unterwegs ist, will sich auch mal ganz real die Hände schmutzig machen." Immer mehr machen ihr Hobby aber dann auch zum Beruf. "Am Anfang waren es nur einige wenige", wird Julie Carlson, Chefredakteurin der wichtigen Design-Website Remodelista im New York Times Magazine zitiert. "Aber mittlerweile wollen so viele ihr Geld mit Keramik verdienen, dass wir langsam den Überblick verlieren."

In Großbritannien gehört eine Töpfersendung zu den erfolgreichsten TV-Formaten

Die Briten haben die Zeichen der Zeit schnell genutzt und aus der Lust am Töpfern eine Fernsehsendung gemacht: Die Show "The Great Pottery Throw Down", in der zehn Hobbytöpfer gegeneinander antreten und von einer Fachjury bewertet werden, war in Großbritannien eines der erfolgreichsten TV-Formate 2015. Über eine Adaption für den deutschen Markt wird bereits nachgedacht.

Wer nicht töpfern will, findet schnell etwas, das zumindest aussieht wie selbstgemacht. Gibt man bei Etsy, einem Onlineshop für handgemachte Produkte, den Begriff "Keramikgeschirr" ein, ploppen Hunderte verschiedene Anbieter auf. In den Regalen von Einrichtungsläden und Designstores stapelt sich die Ware. Es sind wie fast immer auffallend viele skandinavische Marken darunter, die beliebtesten heißen House Doctor, Bloomingville, Studio Arhoj oder K. H. Würtz, selbst H & M hat ein paar rustikal unglasierte Vasen und Schalen im Angebot.

Warum ausgerechnet die Skandinavier führend sind, dafür hat Christine Roland eine ziemlich simple Erklärung. "Wir beschäftigen uns viel mit Design, weil die Winter bei uns so lang sind und wir so viel Zeit zu Hause verbringen. Und weil die Natur so lange draußen bleiben muss, holen wir uns möglichst viel davon nach drinnen", sagt die dänische Keramikerin, die in Berlin lebt. Ihre Objekte erinnern an große Scherben, sind oft aus weißem Porzellan und schwarzem Steingut. Sie verkauft sie in ihrem Studio in der Pücklerstraße und im The Store, dem angegliederten Conceptstore des Soho House. Geleitet wird er von Alex Eagle. Die Kreativdirektorin aus London ist immer auf der Suche nach kleinen, noch unbekannten Labels. "Die Leute haben genug von Massenware. Sie wollen etwas, was nicht jeder hat." Das ist bei Keramik einfach: Da ist jedes Stück ein Unikat.

Klar ist auch: Ohne die Food-Trends würde es den Keramik-Trend nicht geben. "Das ist ganz eng mit der Farm-to-Table-Bewegung verbunden", erklärt Julie Carlson. Der selbstgepflückte Wildkräutersalat und das Steak, vom dem man weiß, wie das Rind hieß, passen nun mal besser auf einen handgefertigten Teller als auf Fabrikware. Selbst wenn das Gericht weder bio noch regional oder sonst wie nachhaltig ist, sieht es darauf viel natürlicher aus.

Keramik bricht leichter als Porzellan. Auf Dauer kann sich das kein Restaurant leisten

Ob das Essen auch anders schmeckt, wenn es auf einem Keramikteller liegt? "Das weiß ich nicht ", sagt Roland Trettl, Sternekoch aus Südtirol, gerade im Fernsehen unterwegs mit Tim Mälzer. "Wenn, dann kopftechnisch. Wenn man glaubt, es schmeckt anders, dann schmeckt es auch anders." Den Trend findet er zwar eine nette Abwechslung, bezweifelt aber, dass es sich in den Restaurants dauerhaft halten wird. "Jeder Gastronom sollte wissen, dass er mit Porzellan weniger Verschleiß hat, weil es heißer gebrannt wird und darum stabiler ist als Keramik. So wie in den meisten Küchen mit Geschirr umgegangen wird, würde bei Keramik viel zu viel zu Bruch gehen. Das kann sich keiner leisten." Dass sich viele japanische Restaurants immer schon mit Keramik eindecken, ist kein Widerspruch. "Die Japaner haben einen ganz anderen Respekt vor Lebensmitteln und vor Werkzeug - allein mit welcher Liebe sie ihre Sushi-Messer pflegen!" Trettl hat lange in Japan gearbeitet.

Sowieso ist ihm das mit dieser ganzen Keramik längst zu viel. "Erst macht es einer, dann machen es alle, und dann reicht es auch schon wieder." Er sei schon wieder auf Weiß umgestiegen. "Bei schlichtem weißen Porzellan steht das Essen im Vordergrund, der Teller hält sich zurück. So soll es sein. Ein Keramikteller schreit pausenlos: Hallo, hier bin ich!"

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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