Interior:Regal, egal

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Die repräsentative Bücherwand mit den Gesamtausgaben stirbt langsam aus. Regale funktionieren deshalb heute eher wie Beistelltische und sammeln vor allem Nippes.

Von Max Scharnigg

Wie sich das Prinzip Bücherregal verändert hat, merkt man am deutlichsten an einem Klassiker, der seit fast 60 Jahren nahezu unverändert gebaut wird. Das Vitsoe-Regalsystem von Dieter Rams, bis heute in einem Geschäft in der Münchner Türkenstraße angeboten, stammt aus einer Zeit, in der Regale gut waren, wenn sie groß waren und ewig erweiterbar. Das war so wichtig, weil sich in solchen mitgewachsenen Regalen der ganze Stolz des Bürgertums vorzeigen ließ. Bildung hatte schließlich noch Gewicht: die eigene Bibliothek, die passionierte Buchsammlung, das in akademischer Laufbahn erworbene Wissen. Das Bücherregal war die analoge Festplatte jeder Privatwohnung, und Smart Home bedeutete lange Zeit nur, dass möglichst viel laufende Regalmeter ansehnlich gefüllt waren. Dieter Rams entwarf sein System deshalb schlicht, aber stabil und in der Gewissheit, dass es nicht um das Regal ging, sondern um seinen Inhalt. Das Billy von Ikea hatte in dieser Hinsicht den besten Wirkungsgrad, aber auch die verschraubten Stahlkonstruktionen von USM Haller und die leichten String-Regale erlebten in dieser belesenen Einrichtungsepoche ihre Blütezeit.

Viel Luft, wenig Bücher: das „Compile“ von Muuto, neu inszeniert. (Foto: Hersteller)

Mit dem Beginn des digitalen Zeitalters stand das Regal aber vor den gleichen Problemen wie alle altmodischen Trägermedien: Die Formate wandelten sich, wurden erst kleiner und leichter und dann ganz körperlos. Heute ist die Bereitstellung möglichst viel offen archivierenden Stauraums nicht mehr das dringlichste Problem, wenn Wohnungen eingerichtet werden. Und auch nicht die Frage, ob genug Tragkraft für einen kompletten Brockhaus, Kindlers Literatur Lexikon, die Suhrkamp Bibliothek und die Encyclopædia Britannica vorhanden ist.

Die Zeit der analogen Wissenshäufung ist vorbei, und das Produktdesign begleitete diesen Wertewandel. So schrumpften die Regalfächer erst auf DVD- und CD-Größe und -Tiefe zusammen. Später wurden Regale immer bunter, verspielter und waghalsiger konstruiert, weil sie nicht mehr so viel Nutzwert haben mussten. Beispiel sind etwa der ulkige "Bookworm" von Ron Arad oder das beängstigend schiefe "Es" von Nils Holger Moormann. Außerdem hielten allerlei schmucke Kisten und Fächer, Einzelschubladen und Zeitschriftensammler Einzug, die Dieter Rams komisch vorkommen müssen, schließlich haben sie im Vergleich zum Vitsoe nur etwa so viel Stauraum wie ein Sportwagen im Vergleich zu einem Lkw. Aber für das bisschen, was an Medien noch analog rumfliegt, sind sie ganz brauchbar.

Mit bürgerlicher Bibliothek hat das heute nichts mehr zu tun, es sind temporäre Ablageflächen

Dann gab es in den Wohnvisionen der Innenarchitekten eine Zeit lang gar keine richtigen Regale mehr zu sehen, sondern nur noch einzelne Bretter, die möglichst schwebend an der Wand hängen sollten und schon deshalb gar nicht für schwere Lasten ausgelegt waren. Ein paar hauchdünne Stahlsimse oder Eichenbohlen genügten für die paar Alibi-Bücher, CDs, fürs Tablet und eine Ethanolflamme. Mit bürgerlicher Bibliothek und persönlichem Archiv hatte das nichts mehr zu tun, es waren eher temporäre Ablageflächen oder noch banaler: horizontale Achsen, die den Wohnraum strukturierten. Die legendären Nehmerqualitäten des Billy werden der nächsten Generation jedenfalls nicht mehr ganz zu vermitteln sein.

Die Bücherwand stirbt also aus, das Regal aber nicht. Das bekommt andere Aufgaben, wie auf den Möbelmessen der letzten Jahre zu beobachten war. Statt Buchattrappen häufte sich dort jedes Jahr mehr haarsträubender Kram in den modernen Regalsimsen, am liebsten sogenannte Designertoys. Das ist eine Sparte, die gleichzeitig mit den potemkinschen Regalen zu florieren begann. Viele renommierte Marken und nahezu alle namhaften Designer haben sich heute mit solchen netten Kleinigkeiten und Toys beschäftigt, es wurden allerorten Puppen und Figuren aufgelegt, Handschmeichler, Miniaturmöbelklassiker oder possierliche Holztiere und moderne Keramikmonster geschaffen. Die Notwendigkeit, Erwachsenen neuen Nippes für den Wohnraum zu bieten, hat ganz aktuell sogar der Ikea-Konzern erkannt und acht zeitgenössische Künstler gebeten, bunt-abstrakte Glasfiguren zu entwerfen - Regalbewohner, die da einziehen sollen, wo früher die Gesamtausgaben von Thomas Mann und Joseph Roth standen.

Typische Regal-Kunst zum Kuratieren der leeren Fächer, die Vase „Rombo“ von Alessandro Mendini. (Foto: Hersteller)

Formschöne kleine Speaker und Smartboxen sind wichtiger Bestandteil der neuen Regalwelt

So haben Regale der Zukunft durchaus wieder repräsentative Aufgaben, genau wie damals, als sie den Wissensschatz ihres Besitzers präsentierten. Allerdings haben sie heute viel weniger Inhalt und nur noch die intellektuelle Strahlkraft eines größeren Coffee Table. Ein paar Magazine mit ungewöhnlichen Formaten, einige hochwertige Accessoires, Spiegel und Lämpchen, Reisesouvenirs, Vasen und Duftkerzen - die Produktpalette dieser Deko-Dingelchen ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen, auch Stardesigner wie Tom Dixon bieten heute ein breites Angebot an solchen Utensilien an.

Das Regal wird zum Schaufenster des schöner Wohnens, zu einer kuratierten Zierleiste, mit der man sein Stilbewusstsein dokumentiert. Wenn Stylisten oder Instagrammer ihre Regale fotografieren, sehen die jedenfalls aus wie Wunderkammern, in denen neben schönem Tand auch das ein oder andere Objekt aus dem Bereich der Heimelektronik stehen muss. Nicht ohne Grund luden auf dem diesjährigen Salone del Mobile in Mailand Google, Sonos und Bang&Olufsen zu Partys und präsentierten ihre Produkte. Denn diese formschönen kleinen Speaker und Smartboxen sind wichtiger Bestandteil der neuen Regalwelt. Wo sich einst die Bücher stapelten, stehen heute sehr luftig die Systeme, von denen sie verdrängt wurden.

© SZ vom 28.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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