Geschmacksache:Naked Cake

(Foto: Alamy/mauritius images)

Kuchen müssen neuerdings "ehrlich" aussehen, nackt und authentisch, ohne Guss, Creme, Ganache oder Kuvertüre. Was für ein Missverständnis!

Von Marten Rolff

In einer Welt, in der die soziale Kontrolle zunimmt und jede Alltagsregung digital ausgestellt wird, braucht man kleine Ventile der Freiheit. Konditoren zelebrieren ihre Unangepasstheit gern mit Naked Cakes - Torten ohne Guss, Crememantel, Ganache oder Kuvertüre. Nackte, "ehrliche" Kuchentürme, aufs angeblich Wesentliche reduziert, bei denen Teigböden, Buttercremeschichten, Beeren und Brösel freiliegen, auf dass der Genießer dem Biskuit in die luftige Seele blickt. Ob auf Instagram, in Backbüchern oder auf Hochzeiten, überall locken nun Torten im Shabby Chic, absichtsvoll unordentlich geschichtete Monstren mit maximal asymmetrischer Deko, die heute zwingend aussehen müssen, als habe ein freidenkerischer Spitzenpâtissier Backstation im Waldorfkindergarten gemacht. Die Argumente für diesen Stil klingen ungefähr so: herrlich unkompliziert, unkonventionell, irre authentisch, hochkreativ und weniger süß seien solche Torten. Und: Liegt wahre Ästhetik nicht gerade im Mangel an Perfektion? Genau hier ist dann auch der Haken. Denn nichts wird so perfekt arrangiert wie der Perfektionsmangel von gutem Naked Cake. Nicht umsonst gilt die New Yorker Starkonditorin Christina Tosi als Mutter des Trends. Tosi ist bekannt für Torten, die Candy-Kinderträume und amerikanische Üppigkeit feiern; ein Stil, mit dem sie sich bewusst von der überziselierten Edelpâtisserie absetzte. Doch Vorsicht: Für ein gutes Tosi-Rezept mit all seinen anspruchsvollen Schichten aus Cremes, Streuseln oder Karamellcrunch darf man einen halben Tag Mühe veranschlagen. Wer dagegen nur ein paar Teigtrümmer als kreativ verkaufen will, der sollte diese lieber schnell wieder mit einem süßen Mantel der Liebe bedecken.

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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