Geheimnis:Mekka auf Stelzen

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Vor 5000 Jahren wurden wahrscheinlich die ersten Teile des Steinkreises im Süden Englands errichtet. (Foto: Mauritius Images)

Die grandiose vorgeschichtliche Anlage von Stonehenge gibt den Forschern ständig neue Rätsel auf. Und das schon seit Jahrhunderten.

Von Alexander Menden

Der britische Kunstkritiker Julian Spalding schlug vor zwei Jahren eine besonders originelle Lösung für ein uraltes Rätsel vor: Stonehenge, die wohl berühmteste prähistorische Kreisgrabenanlage der Welt, sei ein vorgeschichtliches "Mekka auf Stelzen" gewesen. Die heute nur noch partiell erhaltenen Steine in der englischen Grafschaft Wiltshire hätten lediglich den Unterbau einer kreisrunden, hölzernen Plattform gebildet, auf der religiöse oder astronomische Zeremonien vollzogen wurden. Das Ganze sei "ein großer Altar" gewesen, mit einer Holzplattform, die "Hunderten Gläubigen" Platz geboten habe. Ein Vergleich mit religiösen Monumenten anderer alter Kulturen brachte ihn auf die Idee: Sie alle seien "erhöht" gebaut worden, ob in China, Peru oder der Türkei.

Für diese These gibt es genauso wenig Beweise wie für die Legende, der zufolge der Zauberer Merlin den Steinkreis erbaute, oder jener, die berichtet, Riesen hätten die Felsblöcke aus Irland oder Afrika herübergeschleppt. Archäologen, Anthropologen, Archäoastronomen und viele andere haben weitere Erklärungsversuche angeboten - keiner davon ist bis heute allgemein akzeptiert.

Wie schafften es die Erbauer, die riesigen Steinblöcke mehr als 240 Kilometer weit zu schleppen?

Dabei gibt es einiges an gesichertem Wissen über diese gigantische Megalithstruktur aus mehr als 82 hufeisenförmig angeordneten Steinen. So ist Stonehenge Radiokarbondatierungen zufolge gut 5000 Jahre alt. Es entstand in drei Phasen, deren erste in der Jungsteinzeit begann, und deren letzte, bedeutendste, in der Bronzezeit endete. Ungefähr 3100 vor Christus wurde ein Graben mit einem Wall gebaut, circa 110 Meter im Durchmesser; im Zentrum dieser Anlage fanden sich 56 Vertiefungen, im Kreis angeordnet, in denen möglicherweise hölzerne Pfeiler steckten. In der zweiten Bauphase im frühen dritten Jahrtausend v. Chr., von der es keine unmittelbaren materiellen Zeugnisse gibt, wurde wohl eine aufwendigere hölzerne Struktur hinzugefügt. In dieser Zeit fanden hier wohl auch Feuerbestattungen statt. Heute bestimmen das Bild von Stonehenge die Überreste der fünf sogenannten Trilithen, bestehend aus je zwei mächtigen aufrechten Tragsteinen und einem quer aufliegenden Deckstein, und der innere Sarsenkreis. Sie wurden von etwa 2600 v. Chr. an errichtet und in den folgenden tausend Jahren mehrmals umarrangiert. Auch der sogenannte Heelstone, ein 35-Tonnen-Menhir, der außerhalb des Steinkreises auf der sogenannten "Prozessionsstraße" der Kreisanlage steht, stammt vermutlich aus dieser Zeit.

Trotz des hohen Alters wird immer wieder Neues in und um Stonehenge entdeckt. 2014 erst zeichneten sich während einer Dürrephase überraschend die Umrisse von Steinen auf dem ausgetrockneten Boden ab, die möglicherweise schon vor Jahrtausenden entfernt worden waren. Viele solcher Funde geben aber nur neue Rätsel auf. So zeigten Röntgenuntersuchungen vor einigen Jahren, dass der Stein, aus dem der innere Kreis besteht, tatsächlich wie schon länger vermutet wohl aus dem walisischen Pembrokeshire stammt, obwohl die genaue Lage des Steinbruchs noch immer umstritten ist.

Daraus folgt wiederum die Frage: Wie schafften es Menschen, diese riesigen Dolerit-Blöcke mehr als 240 Kilometer vom Steinbruch in Carn Goedog ins heutige Wiltshire zu schaffen? Vor der Erfindung des Rades, so glaubte man lange, hätte es Hunderter Männer bedurft, um sie, zum Beispiel auf Schlitten, über unbefestigtes Terrain zu zerren. Hatte im Pleistozän ein Gletscher, der sich von der Irischen See her ausbreitete, die Steine gen Osten transportiert? Oder wurden sie mittels Unterlage von hölzernen Kugeln an ihren heutigen Standort gezogen, wie der Archäologe Andrew Young vermutet? Bei einem Experiment benötigte man für diese Transportart nur sieben Personen, um Steinklötze dieser Größe zu bewegen. Vielleicht wurden auch Ochsen eingesetzt.

Selbst, wenn wir wüssten, wie diese Steine zur Salisbury-Ebene transportiert und dort aufgerichtet wurden, wäre dadurch nicht klarer, wozu genau die Struktur diente. Manche halten Stonehenge wegen vieler Gräber in der Gegend für eine Art prähistorischer Nekropole, einen Ort der Ahnenverehrung. Erst 2010 entdeckte man in etwa zwei Kilometern Entfernung Überreste eines kleineren Steinkreises, der aus 25 Menhiren bestand. Er könnte ein Sekundärmonument gewesen sein, Teil eines großen Komplexes, in dem Rituale zur Totenverehrung stattfanden. Das könnte auch mit einer Beobachtung schon aus dem 18. Jahrhundert zusammenhängen, deren Bedeutung nicht strittig ist: Der Eingang auf der nordöstlichen Seite des Erdwalls sowie die Öffnung der Hufeisenform der Steine sind so ausgerichtet, dass in der Bronzezeit zur Sommersonnenwende die Strahlen der aufgehenden, zur Wintersonnenwende die der untergehenden Sonne genau in diese Achse fielen. Wahrscheinlich stand früher neben dem Heelstone ein weiterer Stein, so dass sich auch hier ein Eingang für die Sonnenstrahlen öffnete. Die astronomische Bedeutung, obwohl in ihrem rituellen Zweck nicht bestimmbar, ist augenfällig.

Seit 1977 ist der Steinkreis nicht mehr zugänglich, da der Tourismus die Erosion der Struktur deutlich verschlimmert hatte. Nur zweimal im Jahr dürfen heutige Druiden und pagane Gruppen hier Sonnenwendfeiern zelebrieren. Die meisten kommen im Juni und verbringen eine Nacht zwischen den Trilithen, um auf den Sonnenaufgang zu warten. Ob sie damit den ursprünglichen Sinn von Stonehenge ganz erfassen, ist ungewiss, wie so vieles an dieser Stätte. Jüngste Untersuchungen legen jedenfalls den Schluss nahe, dass in der Bronzezeit die Aktivität zur Wintersonnenwende wesentlich größer war.

© SZ vom 18.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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