Essen & Trinken:Die Sauren mit Süße

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Menton-Zitronen gelten als Delikatesse. Sie enthalten fünfmal mehr Zucker als andere Sorten und ihre Schale ist extrem aromatisch. Gerade werden sie wiederentdeckt, von Spitzenköchen ebenso wie von Parfümherstellern.

Von Lorraine Haist

Die Busladungen sonnenhungriger Touristen sind diesmal ausgeblieben. In der französischen Kleinstadt Menton, deren Zitronenfest jedes Jahr zu Winterende mehr als 200 000 Menschen anlockt, ist es stiller als sonst um diese Jahreszeit. Der große Sonntagsumzug, bei dem mit Zitrusfrüchten geschmückte Karnevalswagen durch die Stadt ziehen, Mimosen ins Publikum fliegen und laute Fröhlichkeit herrscht, wurde wegen des Coronavirus abgesagt - Menton ist der östlichste Ort an der Côte d'Azur, direkt an der italienischen Grenze.

Umso unwirklicher machen sich nun die gigantischen Skulpturen aus, die im Stadtzentrum aufgebaut sind, abgesperrt von einem blau-weiß gestreiften Bauzaun: Ein Bierseidel schwingender Bayer in Lederhose, eine skelettierte Schönheit, wie man sie beim mexikanischen Día de los Muertos findet, ein Aborigine, der in ein Didgeridoo bläst - die Kunstwerke sind aus unzähligen Zitronen und Orangen zusammengesetzt, die Bewohner der umliegenden Dörfer haben die Skulpturen wie jedes Jahr gestaltet und dafür jede Frucht von Hand an einem Drahtskelett befestigt. 180 Tonnen, rund eine Million Zitrusfrüchte, brauchte es in diesem Jahr, um die zwölf Figuren zum Leben zu erwecken.

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So einzigartig wie die in den 30er-Jahren erfundene "Fête du Citron" ist die Frucht selbst, um die sich in Menton fast alles dreht. Die Menton-Zitrone, von der es mehrere Sorten gibt, hat den Ruf, die beste europäische Zitrone zu sein: groß, eher oval als rund, dickschalig und so aromatisch, dass sich französische Spitzenköche, aber auch Parfümhersteller aus dem nahen Grasse um die sonnengelbe Superfrucht reißen, die vor mehr als 500 Jahren über Südostasien und Arabien ans Mittelmeer kam. Sie enthält fünfmal mehr Zucker als andere Zitronen und hat eine süße statt bittere Schale. Eigenschaften, die wie das Aroma auf die besondere geografische Lage von Menton zurückgehen: Die ganzjährig und außergewöhnlich üppig tragenden Bäume stehen an steilen, terrassierten Hängen hoch über dem Mittelmeer, vorne von der prallen Sonne beschienen, die vom Meer reflektiert wird, hinten vom mehr als tausend Meter in die Höhe ragenden Roc de l'Orméa vor rauen Nordwinden geschützt. Das beschert Menton ein subtropisches Mikroklima, sorgt für ein bis zwei Wärmegrade mehr als im benachbarten Nizza und lässt neben Zitrusfrüchten auch Mangos, Guaven, Papayas und Bananen gedeihen.

Die Steuer auf den Handel mit Zitronen hat die Fürstenfamilie Grimaldi reich gemacht

Den Ruf der Menton-Zitrone schlachtet man in der pittoresken Kleinstadt, die wegen ihrer pastellfarbenen Häuser und der verwinkelten Gassen als eine der schönsten der Côte d'Azur gilt, entsprechend aus. In der Fußgängerzone reiht sich ein Zitronensouvenirladen an den nächsten, von der Zitronenmarmelade über Zitrusbrotaufstrich bis zum Zitronenpeeling ist alles dabei. Dass der Zitrusnippes auch etwas ramschig wirkt und der Zitronenkarneval mit der Frucht selbst wenig zu tun hat - man importiert dafür günstigere Früchte aus spanischem Anbau - spiegelt den Lauf der Zeit: Wo im 19. Jahrhundert noch rund 80 000 Zitronenbäume für den Wohlstand der Stadt sorgten, drehte sich hier seit dem 20. Jahrhundert, als nordeuropäischer Adel und Großbürgertum die gesundheitsfördernde Wirkung der Riviera entdeckten, alles um Tourismus. Mittlerweile besinnt man sich aber auch hier auf die Nachhaltigkeit und Schönheit der Natur. Seit 2015 ist der Name der Menton-Zitrone zudem geschützt. Er ist an die geografische Herkunft gebunden, eine entsprechende Angabe weist die Exemplare von eigens registrierten Bäumen als regionales Traditionsprodukt aus. Mit dieser Qualitätsoffensive will man an die ruhmreiche Vergangenheit anknüpfen und Einheimische zum Zitronenanbau animieren.

"Die Zitrone ist der Stolz von Menton", sagt Ugo Mondou, der sich in den Wintermonaten um die Zwischenvermietung von Zweitwohnsitzen wohlhabender Briten, Skandinavier und Amerikaner kümmert und nebenbei einen Zitrusgarten unterhält, dessen Früchte verführerisch duften: Es gibt hier große, schwere, geschmacksintensive Zitronen, aber auch winzige Mandarinen mit dünner, fest am Fruchtfleisch haftender Schale und dem Aroma von Mandarinenbonbons - Sorten, die man in hiesigen Breitengraden sonst unmöglich findet und auch nicht im Supermarkt. Die Früchte von Menton sind so außergewöhnlich, dass die Bauern von hier einst 35 Millionen Zitronen im Jahr in alle Welt verkauften - sie bildeten die Grundlage für den Wohlstand des monegassischen Fürstenhauses, zu dessen Reich Menton damals gehörte und das exorbitante Steuern auf den Zitronenhandel erhob. Die Französische Revolution beendete diese vor allem für die Grimaldis fruchtbare Zusammenarbeit. Daraufhin ließ die Fürstenfamilie sich das Glücksspiel in mondänen Casinos als neue Einnahmequelle einfallen.

Mehr als 200 Jahre später beginnt man in Menton auch, sich wieder an sein ungewöhnliches kulinarisches Erbe zu erinnern. Schließlich kann man hier besser als anderswo erfahren, wie verschieden Zitronen sind und dass es einen großen Unterschied macht, mit welcher Sorte man kocht, auch wenn viele Nordeuropäer zu glauben scheinen, es gebe nur eine einzige. In Menton kommt man bei der kulinarischen Verwertung der Zitrone sogar manchmal schon ohne Touristenkitsch aus, wie zum Beispiel die Huilerie St. Michel zeigt.

80.000 Zitrusbäume gab es einst in Menton. Im Stadtgarten stehen heute noch 160 Sorten

Der Traditionsbetrieb von 1896 verkauft seit vier Generationen hochwertiges Öl aus grünen, handgepflückten Oliven. 2005 bekam man mit Karim Djekhar einen findigen neuen Inhaber. Der Algerier, der aus einer Familie von Olivenbauern stammt, wollte aus dem Öl etwas Neues machen und hatte die Idee, dessen Aroma mit dem der Menton-Zitrone zu mischen. In Kooperation mit dem ortsansässigen Spitzenkoch Mauro Colagreco entstand 2006 das erste essbare Duftöl, mit dem man sich das einzigartige Terroir von Menton einverleiben kann, ein gutes halbes Pfund Zitronenschale braucht Karim Djekhar für einen Liter Öl, er mazeriert sie darin mehrere Monate lang. "Die Zitrone hat eine sehr schöne Schale, man muss nur ein bisschen daran reiben, und schon entfaltet sich dieses ganz besondere, sonnenverwöhnte Aroma", sagt er und hält dem Besuch eine prächtige Frucht unter die Nase. Mittlerweile sind verschiedene Öle entstanden, mit Ingwer und rosa Pfeffer, mit Liebstöckel, mit Kurkuma aus Martinique und mit schwarzer, am Baum getrockneter, fermentierter Zitrone, ein im arabischen Raum beliebtes Gewürz.

Die Öle von Karim kann man während eines Menüs bei Mauro Colagreco im "Mirazur" verkosten, der aktuellen Nummer eins auf der Rangliste der "World's 50 Best Restaurants". Der Italo-Argentinier hat bei französischen Spitzenköchen wie Bernard Loiseau, Alain Ducasse oder Alain Passard gekocht und in Menton eine neue Heimat und einen eigenen Stil gefunden. Auch dank der Zitronen: "Als ich hierher kam, hatte ich keine Ahnung von der Gegend und ihren Produkten, aber es war fantastisch, ich habe jeden Tag etwas Neues entdeckt", sagt Colagreco.

Zu seinem Restaurant, einer ehemaligen Raststätte, nur ein paar Meter vom Grenzübergang nach Italien entfernt, gehört ein terrassierter Hanggarten, in dem riesige Avocadobäume, Kräuter und verschiedene Zitrusfrüchte wachsen. Ein 50 Jahre alter Mandarinenbaum liefert die Früchte für ein Dessert, das sofortige Sonnenscheingefühle weckt: eine Mandarinen-Granita auf Mädesüßcreme - so fruchtig und heiter wie die Umgebung. Auf ein Dessert aus Pistazienpüree und Orangeneiscreme drapiert er hauchdünn geschnittene Scheiben von Zitronatzitrone, sous-vide in Zuckersirup gegart.

"Die Zitrusfrüchte haben mir eine ganz neue Welt eröffnet", sagt der 43-Jährige, der mittlerweile zwei weitere Gärten bewirtschaftet und die Erlaubnis des Bürgermeisters von Menton erwirkt hat, sich aus den zwei städtischen Zitrushainen zu bedienen. Allein 160 verschiedene Arten von Zitrusfrüchten gedeihen im Garten La Casetta, ganz in der Nähe des Restaurants gelegen. Colagreco erntet hier gemeinsam mit dem Gärtner seines Lokals. "Bis wir diesen Garten entdeckten, lagen die Früchte hier einfach nur herum und verrotteten", erzählt er. Unterdessen sind die Zitronen, Grapefruits, Limetten, Pomelos, die Blutorangen, Kumquats und Menton-Zitronen nicht mehr wegzudenken aus seiner Küche. Er macht Essige und Marinaden daraus, verarbeitet sie zu Pulver, das eine Fischsuppe erfrischt, und nutzt ihre Schalen als Texturgeber in einem frühlingshaft bunten Risotto mit verschiedenen Blumenkohlarten.

Einen besseren Marketing-Botschafter als Colagreco hätte sich die Menton-Zitrone nicht wünschen können. Er selbst sieht seinen Einfluss auf das Comeback der schönen Frucht allerdings pragmatisch: "Die besondere Vegetation macht es möglich, dass ich diese unschuldige, fast naive Vorstellung von diesem Ort lebendig halten kann - ich sehe ihn jeden Tag mit offenen Augen, wie ein Teenager, der die Welt entdeckt."

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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