Dem Geheimnis auf der Spur:Tödliches Nimmergrün

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Taschendiebe bei der Arbeit – in Charles Dickens „Oliver Twist“. (Foto: Mauritius)

Wer den Galgen fürchten muss, flüchtet sich gerne in Sarkasmus: Vor 500 Jahren entwickelten Verbrecher in England eine eigene Geheimsprache.

Von Sofia Glasl

Über Geld spricht man nicht. Vor allem nicht, wenn man unrechtmäßig in dessen Besitz gekommen ist. Doch wie den nächsten Coup planen, wenn nicht darüber geredet werden darf? Man spricht eben von etwas anderem. Also nicht davon, dass man etwa Geld fälschen will, sondern davon, das Porträt des Königs zu zeichnen. Schon wird aus einer Gaunerei ein harmloses Gespräch über Kunst. Dass das Konterfei des Monarchen auch auf Münzen abgebildet ist, lässt man unter den Tisch fallen.

Die These, der Banditenjargon habe sich aus der Sprache der Roma entwickelt, ist umstritten

Vielmehr: ließ, denn so eine Geheimsprache florierte im England des 16. Jahrhunderts. 1536 gibt es die ersten Aufzeichnungen vom "Thieves' Cant", dem Gaunerjargon, in William Coplands dialogischem Gedicht "The hye way to the Spytell hous". Die Entstehung dieses Geheimcodes ist aber nicht überliefert. Samuel Rid erzählt in "Martin Markall, the Beadle of Bridewell" vom Zigeunerkönig Cock Lorel, der sich um 1530 in der Peak Cavern in der Grafschaft Derbyshire mit seinem Nachfolger Giles Hather traf, um gemeinsame, nicht ganz legale Geschäfte zu besprechen. Um diese weiterhin verbergen zu können, ersannen sie dabei angeblich die Geheimsprache.

Obwohl die Geschichte nicht belegt ist, wurde sie zum Gründungsmythos des Thieves' Cant. Die Entstehungszeit ist relativ wahrscheinlich, doch ist der Jargon keinem Alleinerfinder zuzuschreiben. Vermutlich hat er sich allmählich entwickelt, denn er hielt sich ziemlich lang. Auch lange nach der Herrschaft König Heinrichs VIII. erfreute sich der Banditenjargon großer Beliebtheit. Die Theorie, dass er der Sprache der Roma entstammt, ist umstritten, doch sind Überschneidungen der Wortschätze nicht zu leugnen, auch ist die Beteiligung der Roma nicht widerlegt. Allerdings gibt es zahlreiche Begriffe, die zu keinem klaren Ursprung zurückführen. So ist die Herkunft des Verbs "to fake" (fälschen, erfinden) nicht genau zu bestimmen. Laut dem Linguisten und Etymologen Anatoly Liberman von der University of Minnesota ist jedoch klar, dass der Begriff zunächst als geheimes Synonym für das neutrale "to do" verwendet wurde und erst später das Gaunerumfeld auf seine Bedeutung abfärbte. Auch Charles Dickens' Verwendung im Zusammenhang mit Taschendieben hat die Bedeutungsverschiebung beeinflusst, seine "cly-fakers" (cly = Tasche, Kleidung) treiben in "Oliver Twist" ihr Unwesen.

Woanders gab es Ähnliches, in Deutschland etwa Rotwelsch, in Frankreich den Argot

Besonders in der elisabethanischen Literatur, in Theaterstücken und in der beliebten "rogue literature", der englischen Art des Schelmenromans, werden viele Begriffe dieser Art verwendet. Wie stark sich der Jargon durch die Literarisierung verändert hat, ist nicht ermittelbar. Die Sprachforscher glauben aber, dass eine gegenseitige Beeinflussung von Dieben und Literaten am wahrscheinlichsten ist.

In anderen Ländern entwickelte sich ähnliches, in Deutschland etwa das Rotwelsch, in Frankreich der Argot. Doch ist der Thieves' Cant einer der blumigsten und ausgeprägtesten Kryptolekte, so der linguistische Fachausdruck. Letztlich kann man darin einen Vorläufer moderner Verschlüsselungstechniken sehen, wenn auch sehr viel bunter und unterhaltsamer als ein Salat aus Einsen und Nullen.

Je wichtiger die Sache, desto mehr Ausdrücke gab es dafür. Also sind Begriffe für sämtliche Beutegüter und die Strategien zu deren Erlangung fantasievoll umschrieben, zum anderen alle Wortfelder, die das Gesetz und die darin enthaltenen Strafen bezeichnen. Ironische Metaphern sind nicht selten, der wortwörtliche Galgenhumor ertappter Diebe und Verbrecher spiegelt sich darin wider. So sind dem Galgen selbst ganze Listen gewidmet, eine Bezeichnung übertrumpft die nächste an Sarkasmus. Das tödliche Nimmergrün ("deadly nevergreen"), der dreibeinige Stuhl ("three legged stool") oder auch der Bilderrahmen des Sheriffs ("sheriff's picture frame") führten zum Tod am Strang. Zu ihm konnte der "figure dancer", der auf Dokumenten mit den Zahlen herumtänzelnde Geldfälscher, nach der Verurteilung durch den als Wahrsager ("fortune teller") agierenden Richter aus dem "sheriff's hotel" anreisen, um am eigens zu seinen Ehren abgehaltenen "sherrif's ball" teilzunehmen.

In einem nordenglischen Knast hatten die Insassen eigene Codes für den Drogenhandel

Viele Wörterbücher listen alle über die Jahre entwickelten Begriffe auf, auch wenn der Jargon inzwischen nicht mehr aktiv gesprochen wird. Alle basieren weitestgehend auf Thomas Harmans "Caveat or Warning for Common Cursitors" von 1566 und dem "Dictionary of the Canting Crew", das 1698, anonym von "B. E." signiert, erschien. Doch erfreuen sich die Wörterbücher noch einiger Beliebtheit. Denn der Thieves' Cant wird von einigen neu verwendet. So gibt es extra für Teilnehmer des in den Siebzigerjahren entwickelten Pen-and-Paper-Rollenspiels "Dungeons and Dragons" eigene Wörterlisten, damit sich die dort versammelten Diebe und Strolche austauschen können. Auch gab es 2009 im Buckley Hall Prison im nordenglischen Rochdale einen Fall von modernem Thieves' Cant, als die Insassen mittels hinzugedichteter Codewörter einen regen Drogenhandel ins Gefängnis organisierten. Obwohl kein Kumpan besonders "long tongued" war, also seine Zunge nicht im Griff hatte und das Geheimnis ausplauderte, flog die Sache auf - zu oft in Telefonaten und Briefen verwendete Ausdrücke machten die Gefängnismitarbeiter irgendwann doch stutzig.

Eine tatsächliche Wiederbelebung des Jargons scheint es nicht zu geben. Schade, denn klänge es nicht viel schöner, abends auf ein Feierabendbingo (Schnaps) oder ein bowse (Bier) in die Kneipe zu gehen? Hoffentlich nutzt der Wirt den Rausch dann nicht aus und macht dem Ruf als Bettlermacher ("beggar maker") alle Ehre!

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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