Dem Geheimnis auf der Spur:Stoff für Legenden

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In der Fotografie erkennt man deutlich die Vorderseite eines Mannes, links und rechts davon Brandspuren und vier große Löschwasserflecken aus dem Jahr 1532 . (Foto: Reuters/Bearb. SZ)

Zeigt es tatsächlich das Abbild von Jesus Christus nach der Kreuzigung oder ist es nur eine besonders raffinierte Fälschung? Bis heute rätseln Wissenschaftler, wie das berühmte Turiner Grabtuch wirklich entstanden ist.

Von Michael Stallknecht

Als der Turiner Rechtsanwalt Secondo Pia die erste Negativplatte entwickelt, wird ihm schwindlig vor Augen. Er kann nicht glauben, was er sieht: das Antlitz des Jesus von Nazareth, wie er es aus der ikonografischen Tradition kennt. Man schreibt das Jahr 1898, der Hobbyfotograf hat soeben die ersten Fotos von dem Leinen gemacht, das manche für das Leichentuch Christi halten. Dem bloßen Auge zeigt die 4,36 Meter lange und einen guten Meter breite Stoffbahn schattenhafte Umrisse von Vorder- und Rückseite eines Menschen. Doch in der Dunkelkammer erkennt Pia klar einen nackten Mann mit vor der Scham gekreuzten Händen, halblangen Haaren und Bart. Er hat entdeckt, was zuvor niemand ahnen konnte: Die beiden Abbildungen sind Negative.

Von der Stirn läuft Blut, auch Spuren von Peitschenhieben scheinen sichtbar zu sein

Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wird die "Sacra Sindone", wie die Italiener das Leintuch nennen, im Dom zu Turin aufbewahrt. In unregelmäßigen Abständen wird es der Öffentlichkeit gezeigt, zuletzt pilgerten im vergangenen Jahr wieder mehrere Millionen Menschen nach Turin. 1997 wäre es fast einem Brand zum Opfer gefallen, nachdem es schon 1532 einmal versengt worden war. Die Brandspuren sind mit bloßen Auge gut zu erkennen. Doch ansonsten erscheinen die Konturen umso mehr zu verschwimmen, je näher der Betrachter an das Tuch herantritt. Auf den Fotografien dagegen sieht man die Wunden an der Seite und in der sichtbaren der beiden Hände, wie man sie nach der Darstellung der Kreuzigung Christi in den Evangelien erwarten würde. Von der Stirn läuft in dünnen Rinnsalen Blut, auch Spuren von Peitschenhieben scheinen sichtbar zu sein. Aber handelt es sich deshalb schon um das tatsächliche Grabtuch Christi - oder nur um einen der vielen bekannten Fälle von Reliquienfälschung?

Diese Frage sorgt bis heute für eine Forschung, wie sie keinem anderen religiösen Objekt zuteil geworden ist. Als sich in den Siebzigerjahren zum ersten Mal Naturwissenschaftler über die Stoffbahn beugten, tippten die meisten von ihnen auf Echtheit. Doch als man 1988 ein Stück des Stoffes mithilfe der neuen Methode der Radiokohlenstoffdatierung untersuchte, fiel das Ergebnis ernüchternd aus. Drei Labore datierten das Leinen unabhängig voneinander auf die Jahre zwischen 1260 und 1390.

Das würde gut zu der Tatsache passen, dass die erste öffentliche Darstellung des Stoffs für das Jahr 1357 bezeugt ist. Ein französischer Adliger hatte in Lirey nahe Troyes eine Kapelle für das Tuch gebaut, fiel dann aber in einer Schlacht. Seine Familie benötigte Geld. Sie habe aus Gewinnabsicht "ein mit Schlauheit gemaltes Tuch angeschafft", schimpfte der örtliche Bischof. Der reinste Massentourismus sei das nun, eine Geldmaschine. Dabei habe ein Künstler schon seinem Amtsvorgänger gestanden, das Bild gefälscht zu haben.

Nur wie? Denn "gemalt", wie der Bischof meinte, ist die Darstellung nicht. Bei Untersuchungen wurden keine Farbpigmente gefunden. Eher schon käme ein fotografisches Verfahren infrage. Doch woher sollte ein mittelalterlicher Fälscher die entsprechenden Chemikalien nehmen - und erst recht den Lichtblitz, den es für eine Projektion dieser Größenordnung braucht? Noch rätselhafter wird die Sache, weil das Bild in modernen bildtechnischen Analysen im Gegensatz zu Fotografien auch dreidimensionale Eigenschaften zeigt. Es kann aber auch kaum entstanden sein, indem ein Mann mit dem Tuch umwickelt wurde. Denn dann müsste die Körperoberfläche in der Abwicklung verzerrt erscheinen. Das gilt auch dann, wenn sich tatsächlich der Leichnam Jesu im Tuch befunden haben sollte. Jedenfalls, solange man sonstige übernatürliche Elemente ausschließt.

Vor wenigen Jahren konnte ein italienischer Chemieprofessor scheinbar ein ähnliches Objekt herstellen, indem er ein lose über einen Assistenten geworfenes Leinen mit Ockerfarbe abtupfte. Den Negativeffekt erklärte er damit, dass sich die Farbe bei der Alterung verflüchtigt, während sich die in ihr enthaltene Säure in die Tuchoberfläche frisst. Andere argumentieren, dass ein Flachrelief auf das Tuch gepresst worden sein könnte. Doch um die Details einer Kreuzigung zu simulieren, müsste ein mittelalterlicher Fälscher gewaltige anatomische Kenntnisse und viel archäologisches Detailwissen besessen haben - oder selbst einen Menschen gekreuzigt haben. Auch die Blutspuren auf dem Tuch scheinen echt zu sein.

Wer sich mit der Sindonologie beschäftigt, wie sich die Wissenschaft vom Turiner Grabtuch nennt, der stößt auf viel kriminalistischen Spürsinn und eine Fülle von widersprüchlichen Behauptungen. Wissenschaftler wie Laien, Theologen wie Atheisten, seriöse Experten wie zahllose Esoteriker und Verschwörungstheoretiker beteiligen sich an einer Diskussion, die oft extrem polemisch geführt wird.

Auch die Echtheitsbefürworter können dabei immer wieder Boden gut machen. So scheinen sich auf dem Tuch Pollen von Pflanzen zu finden, die nur in Palästina wachsen. Auf hochauflösenden Bildern will man zudem Spuren von Münzen erkannt haben, wie sie in der Antike Leichen auf die Augen gelegt wurden. Bei der Radiokarbondatierung, so die Argumentation, habe man aus Versehen einen der Flickfetzen erwischt, die im Lauf der Jahrhunderte zum Schutz des Tuches angestückelt worden seien.

Der Wissenschaft scheint es so mit dem Turiner Grabtuch letztlich nicht anders zu gehen als dem bloßen Auge des Betrachters: Je näher sie den Abbildungen zu kommen sucht, desto mehr verflüchtigen sie sich. Die katholische Kirche bleibt da vorsichtigerweise bis heute skeptisch: Sie spricht bis auf Weiteres von einer Ikone, nicht von einer Reliquie.

© SZ vom 26.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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