Dem Geheimnis auf der Spur:Monströses Schicksal

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Merricks Kopf und seine rechte Hand waren durch die Krankheit schwer verunstaltet. (Foto: imago)

Auf Jahrmärkten wurde Joseph Merrick als Elefantenmensch zur Schau gestellt. Bis heute rätseln Wissenschaftler, was die Ursache für seine Missbildungen war.

Von Josef Schnelle

Er konnte reden und schreiben und er liebte es, gekleidet zu sein wie ein Dandy seiner Zeit zwischen 1862 und 1890. Über sein Schicksal und dessen Bedeutung sinnierend verfasste er sogar eine Autobiografie von wenigen Manuskriptseiten. Sein Arzt und Entdecker Frederick Treves lobte seine Sanftmut und den staunenden Blick auf die Welt. Stellvertretend für alles Schöne, das er bewundernd liebte, zierte ein Foto seiner anmutigen Mutter den Nachttisch. Während der Schwangerschaft, schrieb er, sei sie von einer Elefantenherde erschreckt worden, was zu seiner Missgestalt geführt habe. Als "Elefantenmensch" wurde er auf den Jahrmärkten in London und in der britischen Provinz herumgezeigt, unter Zwergen, Löwenmenschen und Riesen. Manche von ihnen waren nur gut präparierte Kunstwesen aus der Trickkiste einfallsreicher Schausteller.

Joseph Carey Merrick aber war echt. Seit seinem fünften Jahr hatte er sich immer mehr in ein "Monster" verwandelt. Schließlich erreichten die Missbildungen solchen Umfang, dass er als junger Mann selbst daran dachte, mit deren Zurschaustellung Geld zu verdienen. Sein Kopf erreichte einen Umfang von 91,4 Zentimetern. Die rechte Hand ähnelte dem Vorderfuß eines Elefanten. Dicke, klumpige Hautfetzen wucherten über den Rücken. Das rechte Bein erinnerte in der äußeren Struktur an verformte Baumrinde. Er konnte kaum gehen, und wenn ihm der Conférencier des Raritätenkabinetts den Hut samt schäbigem Stoffschleier herunterriss, wichen die Besucher der Freakshow stets erschrocken zurück. Lächeln konnte der Elefantenmensch nicht, und auch das Sprechen fiel ihm schwer.

"Ich bin kein Tier. Ich bin ein menschliches Wesen!", soll er einmal einer Verfolgermeute zugerufen haben. Das zitiert wenigstens David Lynch in seinem Schwarz-Weiß-Film von 1980. Der Regisseur erzählt die Geschichte aus der Perspektive der geschundenen Kreatur.

Die Ursachen der Krankheit sind bis heute nicht ganz geklärt. Zu seinen Lebzeiten dachte man, er litte an Elefantiasis, einem krankhaften Lymphstau. Aber bei Merrick war das für diese Missbildung besonders anfällige Geschlechtsorgan nicht betroffen wie auch die linke Hand nicht. Seit 1971 tippten Wissenschaftler eher auf die Erbkrankheit Neurofibromatose. Ende der 70er-Jahre wurde das extrem seltene "Proteus-Syndrom" entdeckt und Merrick 1986 zugeordnet, da seine Wucherungen wie bei dieser Krankheit üblich von Gewebezellen ausgingen. Merricks Skelett ist vollständig erhalten, auch wenn es mehrfach gebleicht und so behandelt wurde, dass es kaum noch Beweiskraft hat. Inzwischen scheint es nicht ausgeschlossen zu sein, dass Merricks Krankheit von einer einzigen, erworbenen Punktmutation eines Gen-Buchstabens herrührt. Doch auch Mehrfachursachen werden immer noch für möglich gehalten.

Er konnte nur in der Hocke schlafen, seinen Kopf ließ er auf die angewinkelten Knie sinken

Der griechische Meeresgott Proteus galt als Gestaltwandler. Einen solchen Wandel erfuhr auch Merrick, als ihn Frederick Treves 1886 fand und ins London Hospital aufnehmen ließ, wo er fortan ein bescheidenes Leben mit eigenem Zimmer fristete. Nun wurde er vom "Freak der Jahrmärkte" zu einer anderen Art von Schauobjekt, das der berühmte Arzt den Kollegen von der Pathologischen Gesellschaft bereitwillig zu angeblich wissenschaftlichen Zwecken präsentierte. Merrick wünschte sich eher die Überführung in ein Blindenhospital oder in ein Exil in einem einsamen Leuchtturm im Dartmoor, wo niemand an seiner Hässlichkeit Anstoß nehmen würde.

Treves schrieb eine aufsehenerregende Studie über die Begegnung mit dem "Elefantenmenschen". Er sammelte Geld unter den Wohlhabenden, die so den Aufenthalt mit Sonderstatus im Krankenhaus finanzierten. Joseph Merrick hatte viele prominente Besucher, sogar Königin Victoria nahm von Ferne Anteil. Immer mehr vermischte sich das echte Leben des Geschundenen mit dem der mythischen Kunstfigur "Elefantenmensch". Die einen sahen in ihm eine bedeutungslose "Laune der Natur", andere einen willkommenen Lackmustest für die Erklärmuster der modernen medizinischen Wissenschaft.

1977 schrieb Bernard Pomerance ein Theaterstück über ihn, das auch am Broadway erfolgreich war - unter anderem verkörperte 1979 Popstar David Bowie den Kranken. Doch erst David Lynch schaffte es, in seinem Film herauszuarbeiten, welche Bedeutung die Schauwerte des Andersartigen noch bekommen sollten, vor allem für das erst entstehende Medium der Angst und des Schreckens, das Kino. Dabei bemüht sich Lynch gerade um das Menschliche der Figur. Der immer noch rätselhafte Tod Joseph Merricks ist bei ihm ein veritabler Opfergang. Merrick konnte nur in der Hocke schlafen, seinen Kopf ließ er auf die angewinkelten Knie sinken. Am 12. April 1890 aber fand man ihn hingestreckt auf dem Rücken. Er wirkte wie ein normal Schlafender. Sein gewaltiges deformiertes Haupt war nach links gedreht und hatte ihn erstickt. Abends zuvor war Merrick im Theater und hatte von der Königsloge aus ein Stück mit Menschen in Tiergestalt bewundert.

Bei Lynch räumt er zuerst ruhig den Kissenberg weg, der bisher seinen Rücken gestützt hat. Wir sehen nicht seinen Freitod, aber die Kamera nimmt uns mit auf eine Himmelfahrt zu den Sternen. 1890 wurden auch mörderische Fremdeinwirkung oder ein dummer Zufall als Todesursache nicht ausgeschlossen. Aber die Menschwerdung des Monsters, die Lynch zeigen wollte - ein Augenblick der symbolhaften Erlösung im ewigen Schlaf - steht eher für das Märchen vom Lob des Normalen im Schrecklichen, das der Elefantenmensch verkörpert.

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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