Dem Geheimnis auf der Spur:Die magische Pflanze

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Die ungewöhnlich geformte Wurzel der Alraune regt seit dem Altertum die Phantasie der Menschen an. (Foto: imago)

Von Galgenmännchen und Lustweibchen: Der Alraune werden seit Tausenden von Jahren wundersame Wirkungen zugeschrieben.

Von Tobias Sedlmaier

Wenn Cannabis die Pflanze ist, deren globale Strahlkraft und Popularität sich aus dem Rausch speist, ist ein anderes Gewächs mehr aufgrund seiner rätselhaften Aura als durch den bloßen Drogenkonsum verrufen: die Alraune. Im Vergleich zum einst rebellischen Symbol des Hanfes, der heutzutage geradezu massentauglich geworden ist und seiner baldigen Legalisierung entgegensieht, erscheint sie geradezu als heidnisches Teufelskraut. Heilkraft, Potenzsteigerung, Glück, Vermögensvermehrung, aber ebenso dämonischer Sexualtrieb, mörderische Gewalt, und geisterhafte Wahnvorstellungen gehören zu den vielen Wirkungen, die der Alraune zugeschrieben werden.

Dabei macht das Nachtschattengewächs mit der botanischen Bezeichnung Mandragora officinarum zunächst einen recht unscheinbaren und harmlosen Eindruck. Es verbirgt sich häufig an Wegesrändern oder entlang alter Gemäuer in warmen, trockenen Gegenden. Die kurzgestielten Blätter der stengellosen Pflanze sind eiförmig und in Form einer Rosette angeordnet. Nur ihr unangenehm betäubender Geruch ist auffällig. Eine Pflanze wie so manch andere, nicht besonders ansehnlich, nicht besonders nützlich, könnte man meinen. Gräbt man die Alraune jedoch aus, offenbart sich eine holzartig-fasrige Wurzel, die oft in zwei Teile gespalten ist und grob der menschlichen Anatomie ähnelt. Sichtbar wird ihre mehrdeutige Natur, sowohl Glücksbringer wie Unheilsträger, nicht nur an der menschenähnlichen Wurzel, sondern auch an der Namensgebung. Die Alraune/den Alraun gibt es nur in männlich-weiblicher Dichotomie.

In der Sage der Gebrüder Grimm entsteht der Alraun aus dem Samen eines gehängten Mannes

Seit dem Altertum ist die Alraune fester Bestandteil von Mythen und magischen Praktiken. Erste Erwähnungen einer "Menschenpflanze" stammen aus Mesopotamien, die frühesten Aufzeichnungen finden sich vermutlich in assyrischer Keilschrift. Auch bei Griechen und Römern war die Mandragora als Heilpflanze gegen seelische Schwankungen, Übelkeit und auch als Liebestrank oder Gift bekannt. Ebenso lässt sie sich im arabischen Raum, in der alchemistischen Schrift "Picatrix" (ca 11. Jahrhundert), nachweisen. Im Buch Genesis des Alten Testaments ist an zwei Stellen die Rede von der "dudaim", einer fruchtbarkeitssteigernden Pflanze, die sowohl Rahels als auch Leas Kinderwunsch erfüllt. Ob die "Liebesäpfel" tatsächlich die Alraune meinten, ist jedoch umstritten. Während in der Antike vorrangig die Heil-und Potenzkräfte der Pflanze im Vordergrund standen, erhält der Aberglaube in Mittelalter und früher Neuzeit weitere Nahrung, nicht nur in den einschlägigen Kräuterbüchern, sondern auch in der Literatur. So erwähnt etwa Shakespeare den charakteristisch schrillen Schrei der Staude in "Romeo und Julia" und lässt die ägyptische Königin in "Antonius und Cleopatra" nach der Mandragora als Schlafmittel verlangen.

Obwohl die Pflanze nördlich der Alpen nicht wild wachsend gedeiht, erfuhr sie eine spezifisch deutsche Mythologie und Umwertung: als Galgenmännchen. Grimmelshausen, Friedrich de la Motte Fouqué und Achim von Arnim widmeten ihm Novellen und Erzählungen. Die Brüder Grimm schließlich etablierten aus gesammelten mittelalterlichen Quellen die Sage vom "Galgenmännchen", deren Elemente bis heute fester Bestandteil des Legendenschatzes geblieben sind. In der Grimmschen Fassung entsteht aus dem Samen eines Gehängten, der auf die Erde tropft, der Alraun. Reißt man diesen einfach so aus dem Boden, wirkt sein Geschrei tödlich. Daher ist zum Ausgraben ein vertracktes Ritual vonnöten, das die stellvertretende Opferung eines Hundes mit einbezieht. Pflegt man das Männlein anschließend entsprechend, badet und bettet es in ein sargähnliches Kästchen, wird Reichtum und Ehesegen gewährt; bei Vererbung kommt dies auch noch der männlichen Nachkommenschaft zugute.

Ein solches Erbstück löst auch die Geschehnisse in einer der bekanntesten deutschen Alraunen-Adaptionen aus: Hanns Heinz Ewers Roman "Alraune" von 1911. Ein Geheimrat erschafft mithilfe der künstlichen Befruchtung einer Dirne mit dem Samen eines zum Tode Verurteilten das Mädchen Alraune. Das Mischwesen verschafft ihm in Folge zwar einen steten Zufluss an Reichtum, stürzt jedoch alle Mitmenschen ins Verderben. Ewers betont in seinem abgründigen Unterhaltungsroman, der in den Zwanzigerjahren ein Bestseller war, das verderbliche Element der weiblichen Sexualität - die Alraune als Femme Fatale.

Heutigen Lesern dürfte die Pflanze vor allem aus J.K. Rowlings "Harry Potter"-Reihe bekannt sein. Darin taucht sie als unerträglich schreiendes Wurzelbaby auf, aus dessen Sud das Gegengift für Versteinerungen gewonnen wird. In dem B-Movie "Alraune - Wurzel des Grauens" wird aus dem Gewächs sogar eine blutrünstige Kreatur, halb Pflanze, halb Mensch.

Doch ist die Alraune nicht nur schauerliches Motiv in Literatur und Film, sondern auch in der Alternativmedizin und im modernen Hexenkult zu finden. Letzterer orientiert sich an der frühneuzeitlichen Vorstellung, dass die Alraune ein Bestandteil der Flugsalbe gewesen sei, mit deren Hilfe sich die Frauen in die Lüfte erhoben. Auf diversen Internetseiten und in Foren wird die Pflanze als Talisman oder Heilkraut gepriesen. Freilich, in homöopathischer Dosierung. Denn ein Warnhinweis sei hierbei gestattet: Unabhängig von jeglichen schwarzmagischen Auswirkungen sind die Bestandteile der Alraunenpflanze hochgiftig und somit wenig potenzfördernd. Von einem halluzinogenen Höllentrip ist dringend abzuraten - für die sanfte Reise gibt es immer noch Cannabis.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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