Dem Geheimnis auf der Spur:Besuch vom Eisenvogelgott

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1908 knicken im sibirischen Krasnojarsk 60 Millionen Bäume um. Meteorit? Außerirdische? Bis heute fehlt eine Erklärung.

Von Josef Schnelle

Das Rätsel beginnt schon mit der Bezeichnung, ganz bestimmt bleibt es ein eher unbestimmtes "Ereignis". Bis heute ist ungeklärt, was genau am 30. Juni 1908 in Sibirien in der heutigen Region Krasnojarsk tatsächlich geschehen ist. War es ein auf die Erde gestürzter Meteorit, eine Explosion vulkanischer Gase oder zerplatzte damals gar ein außerirdisches Raumschiff?

Jedenfalls geschah in jener Nacht um sieben Uhr morgens etwas Ungeheures, von dem noch heute Zerstörungen in einem etwa 2000 Quadratkilometer großen Gebiet zeugen. 60 Millionen Bäume sind wie einem raffinierten System folgend, in dieselbe Richtung umgeknickt. Es fehlt aber jede Spur eines Meteoriteneinschlagskraters, in diesem Falle eines gigantischen. Augenzeugenberichte aus dem sehr dünn besiedelten Raum gibt es kaum. Nur die Schamanen der dortigen Ewenken berichten von einer Racheaktion des feuerspeienden Eisenvogelgottes Agdy als Reaktion auf einen gewaltsamen tribalen Konflikt, dem zahlreiche Sippen ausgerechnet 1908 zum Opfer gefallen sein sollen.

Nur die große Abgeschiedenheit der Gegend verhinderte eine Menschheitskatastrophe

Opferstatistiken gibt es jedoch nicht. Lediglich Berichte über einen hellen Schein, in dessen Licht man bis London über mehrere Tage hinweg sogar nachts Zeitung lesen konnte. Die Explosion dürfte - manche sprechen auch von bis zu 14 Einzelexplosionen - die Sprengkraft von 1000 Hiroshima-Bomben gehabt haben. Nur die große Abgelegenheit verhinderte eine Menschheitskatastrophe mit Hunderttausenden Toten, etwa wenn das "Ereignis" St. Petersburg getroffen hätte, das auf demselben Breitengrad liegt. Tatsächlich wird das Tunguska-Ereignis mehr Rentiere als Menschen getroffen haben.

Die Kraterlosigkeit könnte sich so erklären, dass ein kleiner Asteroid oder ebensolcher Komet etwa 20 Kilometer über dem Boden rückstandslos in einen reinen Feuerball übergegangen ist. Trotzdem suchen Forscher weiter nach Belegen für einen Impakt, etwa im ungewöhnlich geformten Tscheko-See, circa 8 Kilometer nördlich vom Epizentrum, der aber nach russischen Forschungen bereits 280 Jahre alt sein muss. Das ganze Gebiet ist vulkanisch und stammt aus der Perm-Trias-Wende vor 250 Millionen Jahren. Darauf fußt die zweithäufigste Ursachentheorie mit geophysikalischer Erklärung: Unter der Erdkruste hatte sich Magma und darüber Gas gebildet, das 1908 durch ein Geflecht von Röhren im Gestein den Weg an die Oberfläche fand, wo es sich als "Verneshot" entzündete. Die Bezeichnung entspringt der Bewunderung des Geologen Phipps Morgan für Jules Verne und dessen Raketenschuss im Roman "Von der Erde zum Mond".

Die Geschichte der Tunguska-Erforschung ist von der Leidenschaft spezialisierter Forscher geprägt. Schon die ersten fünf Expeditionen unter Leitung von Professor Leonid Kulik zwischen 1927 und 1939 waren davon beeinflusst. Kulik erreichte als Erster das Epizentrum der Explosion. Er hat eine unversehrte Hütte in Wanawara zurückgelassen, die noch heute jeder Tunguska-Experte zuerst aufsucht. Seit 1963 gibt es eine Fangemeinde mit jährlichen Tagungen und mehr als 30 "Enthusiasten-Expeditionen". Auch eine Dauerausstellung mit Tunguska-Exponaten auf der Burg Schönfels bei Zwickau ist entstanden. Das Rätsel von Tunguska beschäftigt offenbar neben russischen Fachleuten besonders Deutsche. 1929 suchte sogar die Besatzung des Luftschiffs Graf Zeppelin bei der Erdumrundung nach einem Krater in der Tunguska-Region.

Wir sind beim Stoff, aus dem Science-Fiction-Träume entstehen, daher sei erwähnt, dass eine beachtliche Fan-Gemeinde die Explosion eines außerirdischen Raumschiffs hinter der Katastrophe vermutet. Immer wieder wird also nach Trümmerteilen gesucht. Stanislav Lem, die Brüder Strugatzki und andere verarbeiteten diese These zu erfolgreichen Romanen. Manche unterstellen diesem Tunguska-Raumschiff auch eine Zeitreisefunktion. Bei Christian Kracht führt das in "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" (2008) zu einer alternativen historischen Zeitachse, die verhindert, dass Lenin ins verstrahlte Russland zurückkehren kann. Stattdessen baut er in der Schweiz eine "sozialistische Räterepublik" auf.

Abenteuerlich sind manche "alternativen" Theorien: Der englische Astrophysiker Bondi Lapace nimmt an, ein Meteorit aus Antimaterie sei abgestürzt und natürlich rückstandslos verschwunden. Es könnte sich auch um ein kleines "schwarzes Loch" gehandelt haben, das durch den Erdball raste. Doch fehlt jede Spur der Austrittsstelle in der Wasserwüste gegenüber, und in tausend Stücke zersprengt ist die Erde bekanntlich auch nicht. Ein Bösewicht, so amerikanische Forscher, soll Nikola Tesla sein, der just 1908 mit einer neuen Übertragungsmethode von Energie experimentierte. Statt wie geplant den Nordpol auszuleuchten, landete sein Energiepaket, abgesendet vom eigens dafür gebauten Wardencliffe-Tower in Long Island, versehentlich in der Tunguska-Steppe. Sonst führten seine Forschungen zur drahtlosen Telegrafie und zum Wechselstrom. Angeblich wurde in den Jahresringen der gefallenen Bäume für 1908 eine enorme Zunahme von Cäsium 137 gemessen: eine atomare Explosion weit vor dem Atomzeitalter? Wachsen nicht Bäume und Pflanzen im Tunguska-Gebiet seltsam schnell?

Viel humorvoller klingt die These von einer zerstörerischen gewaltigen Mückenverpuffung, bei der Myriaden von Mücken zu Staub wurden. Vielleicht gehört "Tunguska" einfach zu jenen Ereignissen, deren Klärung weit weniger Spaß macht als die vielen Fragen, die sie eröffnen.

© SZ vom 29.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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