Das Gegenteil von dunkel:Bunt to go!

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Alltagsästhetik in Vietnam: Erst auf einer Brücke wurde die Fotografin Loes Heerink auf die kunstvollen Arrangements der Straßenhändler in Hanoi aufmerksam und begann, diese Symbiosen aus Mensch, Ware und Fahrrad zu dokumentieren. Die Serie "Vendors From Above" soll im Mai als Buch erscheinen. (Foto: Loes Heerink)

Der Winter ist jetzt in seiner nervigen Phase angekommen. Das ist gut so, denn jetzt produziert der Körper Fernweh und Sommersehnsucht.

Von Max Scharnigg

Der Winter lässt sich ungefähr in vier Gefühlsphasen einteilen. Es beginnt mit der vorweihnachtlichen, die ja sehr erträglich ist. Man trinkt Glühwein und findet es gar nicht so übel, freut sich über Mandarinen und Mützengefühl und genießt sogar das frühe Dunkel und die Heimeligkeit der Feiertage. Was, fragt man sich in dieser Phase, was soll das ewige Gejammer? Dieses Mal wird der Winter ein Klacks!

Die zweite Phase beginnt dann ziemlich bald nach dem ersten Januar, die Plätzchenteller sind leer, der neue Winterpullover hat schon Knötchen und man denkt nicht mehr daran, Glühwein zu trinken, ist ja ein absurdes Getränk. Dafür kommt nicht selten jetzt erst der Schnee. Das ist noch mal ein gutes Ablenkungsmanöver, raus mit Ski und Rodel, schau mal, wie schön die Stadt in Watte gepackt ist! Dieser romantische Schnee- und Eistaumel hält im aufdringlichsten Falle noch mal zwei bis drei Wochen. Dann folgt, meistens in Tateinheit mit einer deftigen Tauperiode, die schwere Phase drei, denn jetzt tauen nämlich auch langsam bittere Erkenntnisse auf. Erstens - igitt, nach der Silvesternacht hat ja niemand aufgeräumt. Zweitens - alle Menschen im Büro haben mittlerweile eine Gesichtsfarbe wie alte Leberwurst. Huch, ich auch! Außerdem hat der Winterpullover schon ein Loch, überall der Rollsplitt, die beschlagenen Busfenster, die ewige Erkältung - kann dieser Winterquatsch bitte bald vorbei sein? Die vierte Phase, so ab Mitte Februar und bis weit in den März, ist dann schiere Verzweiflung. Wenn hoffnungsvolles erstes Tulpengrün noch mal von Schnee- und Schlammlawinen überdeckt wird und sich drei Wochen lang eisiger Hochnebel mit böigem Regen abwechseln, steht das Land kurz vor der Sammelklage gegen die Naturfolter.

Aber so überflüssig die letzten beiden Phasen erschienen mögen, sie sind doch auch zu etwas gut. Heute würde man sagen, es ist Lebenslust-Detox, zu der man dabei gezwungen wird. Die Sinnesorgane werden jetzt defragmentiert, damit später der Frühling einschlagen kann und sich jede Primel mit wundersamer Strahlkraft auflädt. Außerdem ist der Winterblues wichtig, weil in dieser Zeit die Erinnerungen veredelt werden. Angesichts der verödeten Grünfläche und Schmutzränder an den Schuhen setzt man die Barfuß-Bilder des letzten Sommers gedanklich aufs Stövchen und wärmt sie auf.

Gleichzeitig wird ordentlich körpereigenes Fernweh ausgeschüttet. Im Bus mit den beschlagenen Scheiben beginnt die Reiseplanung, hier jongliert man Urlaubstage, setzt den Wunschzettel für die warmen Monate auf und nimmt sich angesichts der Tristesse ringsum vor, jeden schönen Tag, jedes Wochenende, jede Sommerminute doppelt auszukosten. Und da kommen die Vietnam-Fotos von Loes Heerink ins Spiel.

Die Serie "Vendors From Above" der jungen holländischen Fotografin ist vielleicht keine große Fotokunst, aber ihre Motive erreichen die Netzhaut gerade in dem Moment, in dem sie am empfänglichsten ist: Farbe, Geschmack, Wärme und Exotik, all das steckt in diesen herrlichen Draufsichten, all das transportieren die Verkäufer in ihren Körben nebst Blumen, Kumquats und Kartoffeln durch die Straßen von Hanoi. Aber auch die Sorgfalt mit kleinen Dingen, die absichtslose Schönheit, die Mensch und Natur hier erzeugen, die scheinbare Leichtigkeit des Lebens in Gegenden, die statt des vierten Kälteeinbruchs eine zweite Ernteperiode kennen, erschüttern den Betrachter in seinem Winterüberdruss. Man ist ja beinahe überzeugt, dass diese Fotos Vitamin C und D enthalten und man sie nur lange genug betrachten müsste, um eine gehörige Dosis davon abzubekommen.

Die mobilen Straßenhändler gehören in Vietnam zum Straßenbild, und wenn man ihnen gegenüber steht oder durch die Stadt spaziert, fallen sie gar nicht auf, sagt die Fotografin über den Auftakt ihrer Serie. Erst als sie auf einer Brücke stehend das Treiben unter sich beobachtete und bei ein paar Schnappschüssen zufällig einen der Händler von oben und ganz frei von Kulisse erwischte, begann sie, die kunstvollen Arrangements der fahrenden Auslagen und die symmetrische Einheit aus Mensch und Ware zu erkennen. Fortan verbrachte sie Stunden auf Gebäuden und Brücken und wartete auf Händler, am Ende stand eine Serie mit Dutzenden Gespannen, jedes eine eigene Alltagssymphonie aus Farben, Formen und Fahrrad.

Loes Heerink sprach auch mit den Händlerinnen, meistens sind es Frauen, die jeden Tag mit ihren Rädern erhebliche Strecken zurücklegen. Als die Fotografin die Schönheit ihrer Arrangements lobte, setzte es ungläubiges Gelächter. Des einen Alltagsquark ist eben des anderen Vitaminstoß! Genau für diesen wundersamen Abgleich muss man sich gelegentlich in die Welt aufmachen.

Die beladenen Fahrräder sind aber auch eine brauchbare Metapher für das, was man selbst ab Ende Januar beginnt: Das eigene Fahrrad mit schönen kleinen Ideen zu bestücken und dann, vollgehängt mit Verheißungen, ins Jahr zu eiern.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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