WM-Spiele:Zu viel Arsenal, zu wenig Anarchie

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Viele Spiele waren bislang bestenfalls interessant, aber nicht aufregend und oft einfach langweilig. Noch fehlen der WM die großen Partien - die Darsteller hängen zu stark in ihren taktischen Fesseln.

Christoph Biermann

Als die Stunden ins Land zogen und die Schweiz immer noch gegen die Ukraine spielte, wurde die Weltmeisterschaft psychedelisch. Die Zeit zerdehnte sich und verlief wie die Lichter einer Lavalampe, doch leider gab es diesen Effekt nicht nur beim schlechtesten Spiel des Turniers.

Bei Ribéry laufen die Fäden des Spiels nicht zusammen und vielleicht kann er es auch nicht lesen. Aber: "Er hat Hunger und keine Angst". (Foto: Foto: AFP)

Denn die bislang gespielten 56 Partien sind nicht nur ein Triumph des Erwartbaren, sieht man von kleineren Überraschungen und den mitreißenden Auftritten der deutschen Mannschaft ab. Viele Spiele waren bislang bestenfalls interessant, aber nicht aufregend und oft einfach langweilig.

Noch muss die Hoffnung auf einen erinnerungswürdigen Klassiker nicht sterben, immerhin stehen jene sechs WM-Teilnehmer im Viertelfinale, die schon einmal Weltmeister waren. Doch langsam stellt sich die Frage, warum der Fußball bei dieser WM weniger schwungvoll und optimistisch gespielt wird als das erwartet wurde. Und warum der Standard unter dem der EM 2004 in Portugal liegt?

Franck Ribéry ist kein Stratege

In den vergangenen Jahren ist der Fußball systematisiert worden, und obwohl das schrecklich klingt, war es die Voraussetzung für attraktives Spiel in höchster Geschwindigkeit, wie ihn der FC Arsenal oder der FC Barcelona zeigen.

Bei der WM 2006 haben wir ihn vielleicht deshalb noch kaum gesehen, weil Nationalmannschaften die Zeit fehlt, so etwas einzuüben oder sie einfach nicht so gut besetzt sind wie die besten Klubmannschaften. Jedenfalls hat die Ordnung auf dem Platz bislang nicht zu Attraktivität geführt, sondern zu Schematismus.

Statt zu agieren wollten die meisten Trainer vor allem das Spiel kontrollieren, und dies hat beim Publikum die Sehnsucht nach Spielern geweckt, die diese Kontrolle durchbrechen.

Doch leider erfüllten die meisten diese Sehnsucht nicht. Vor allem der Typus nicht, der bei diesem Turnier besonders weit verbreitet ist: der Arsenalist. Das ist nicht wörtlich zu nehmen, denn obwohl 16 Spieler aus dem Klub von Arsène Wenger in Deutschland angetreten sind, gibt es diesen Typ auch in anderen Spitzenvereinen.

Bei der WM sah man ihn im Team der Engländer und der Elfenbeinküste, bei Frankreich, Schweden und den Holländern sowieso. Die Aufzählung ist nicht komplett, aber man erkennt den Arsenalisten an seiner Schnelligkeit, an seinem perfektem Umgang mit dem Ball sowie an seiner guten taktischen Ausbildung.

Er ist ein Spieler mit phantastischen Fähigkeiten, doch je länger man ihm bei dieser WM zusah, desto deutlicher wurde auch, was ihm fehlt.

Jenseits der Norm

Es wäre albern, die Figur des unverbildeten Wilden dagegenzustellen, der dank seiner natürlichen Instinkte den Protagonisten des domestizierten Hochschul-Fußballs überlegen ist. Kein Spieler bei einer WM kommt heute mehr aus dem Nichts, aber es gibt Spieler von Klasse, die jenseits der Norm sind.

Die keine Fußballinternate und kein Studium in modernem Fußball hinter sich haben, denen dafür aber wirkliche Überraschungen gelingen. Das macht sie bei dieser WM zur gesuchten Spezies: die des anarchischen Spielers.

Franck Ribéry, der Franzose mit der großen Narbe, ist so ein Anarchist. Er war nicht in der Eliteschule Clairefontaine und ist kein Stratege. Bei Ribéry laufen die Fäden des Spiels nicht zusammen und vielleicht kann er es auch nicht lesen.

Dafür kann er das Spiel mit einem Dribbling und einem seiner explosiven Sprints verändern. "Er hat Hunger und keine Angst", hat sein Mannschaftskamerad Thierry Henry über ihn gesagt. Auch Carlos Tevez scheint Hunger zu haben, der Argentinier spielt Fußball wie ein Wolf.

Wenn er über den Platz läuft, ist er auf der Jagd, mit dem Ball am Fuß bringt er seine Gegner zur Strecke. Tevez macht die argentinischen Kombinationen schlechter, denn er ist eher ein Einzelgänger, aber dafür kann er ein Spiel auch allein entscheiden.

Eine der erstaunlichsten Entwicklungen des Fußballs der vergangenen Jahre ist es, dass Stürmer keine Verteidiger mehr umspielen können. Lukas Podolski etwa dürfte das zuletzt in der Jugend gelungen sein.

Sie schlüpfen durch brüchige Stellen in den Abwehrketten oder nutzen das Durcheinander im Strafraum, aber wer spielt noch wirklich einen Verteidiger aus, der sich vor ihm aufgebaut hat? Und wer ist obendrein noch torgefährlich? Lionel Messi! Er repräsentiert zudem das Beste aus beiden Welten, er hat die Klarheit eines gut ausgebildeten Fußballprofis aber zugleich die anarchistische Intuition bewahrt.

Deshalb liebt Diego Maradona ihn auch so, der größte Anarchist in der Geschichte des Fußballs. Maradona allein hat mittelmäßige Mannschaften Titel gewinnen lassen, denn Argentinien 1986 war kein großes Team, aber Maradona kam einem Rasen-Gott sehr nahe.

An seine Mitstreiter beim SSC Neapel erinnert man sich kaum. Diese Zeiten sind vorbei, aber es ist kein Zufall, dass Maradona nach Franz Beckenbauer die präsenteste Figur des aktuellen Turniers ist. In diesem Fußballsommer braucht es Spieler, die ihm nahe kommen.

Afrikas Sehnsucht

Seit vielen Jahren steht der afrikanische Kontinent für die Sehnsucht danach und hat sie wieder nicht erfüllt. Die Elfenbeinküste war dabei den Arsenalisten zu nahe, weil sie ein wenig zu kalkuliert spielte.

Dagegen sagte Tony Baffoe, Ghanas Teammanager, nach dem Ausscheiden gegen Brasilien: "Wir müssen uns unbedingt taktisch weiterentwickeln." Man könnte auch sagen, dass Ghana gegen den Weltmeister zu anarchisch spielte. Es gilt eben die feine Linie zu treffen zwischen dem Mangel an Ordnung und dem Mangel an Unordnung.

Bislang spielten die Anarchisten bei diesem Turnier nur eine Nebenrolle, weil die Hüter der Ordnung dominierten. Lionel Messi und Carlos Tevez sind nur Reservisten, Franck Ribéry hat sich erst spät ins französische Team gespielt. Doch es gibt ja noch die Brasilianer, die inzwischen alle übergewichtig zu sein scheinen, nicht nur ihr als "Pummelnaldo" verspotteter Mittelstürmer.

Sie sind die Harlem Globetrotters ohne Weight Watchers, und das allein ist in der Welt des Spitzensports anarchisch genug. Die Mannschaft hat zwar eine strenge taktische Ordnung, die das Team jedoch eher gemütlich abarbeitet. Manchmal pausieren die Spieler an imaginären Stehtischen, dann bricht einer nach vorne auf und haut dem Gegner einen rein.

Sie haben inzwischen zehn Tore erzielt, und der Dicke mit der Nummer neun hat Gerd Müllers WM-Rekord gebrochen. Vielleicht ist das die wahre Anarchie, und vielleicht kann sie nur die deutsche Elf beenden.

© SZ vom 29.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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