Wimbledon:Aus dem Hügel wird ein Berg

Lesezeit: 3 min

Held oder Depp, dazwischen gibt es wenig im Inselreich. Tim Henman verliert, Andrew Murray gewinnt - die Briten feiern einen neuen König von Wimbledon.

von René Hofmann

London - Mit Zeitungen kann Andrew Murray nicht viel anfangen. Er beschäftigt sich lieber mit seiner Spielkonsole, und das ist auch gut so.

Sonst wüsste er jetzt schon, was ihm in den nächsten zehn Jahren bevorsteht. Am Donnerstag hat Andrew, genannt Andy, Murray, geboren am 15. Mai 1987 in Dunblane/Schottland, sein zweites Match in Wimbledon gewonnen: 6:4, 6:4, 6:4 gegen Radek Stepanek.

Als die neue britische Hoffnung gegen den Tschechen auf den Platz schritt, hatte die alte nebenan gerade verloren: 6:3, 2:6, 6:3, 3:6, 3:6 unterlag Tim Henman dem russischen Außenseiter Dimitri Tursunow.

Held oder Depp

Was Henman, 30, und Murray, 18, am nächsten Morgen an Schlagzeilen erwartete, kann sich jeder vorstellen, der auf der Insel schon einmal eine Zeitung gekauft hat. "Hero" schrieb die Sun unter das Foto von Murray, unter dem von Henman stand: "Zero".

Held oder Depp, dazwischen gibt es wenig im Inselreich. "Der König ist tot, lang lebe der König", ruft die Times: "Hoch lebe der neue Träger des britischen Wimbledon-Traums!"

Wäre Murray nicht 1,85 Meter groß, kräftig und so sehr seiner Xbox zugeneigt, man müsste sich Sorgen um ihn machen. Der Druck, der bei ihrem Heimspiel auf den britischen Tennisprofis lastet, ist gewaltig.

Vor einigen Jahren hat der All England Club eine Videowand vor einen Hügel an der Church Road gestellt. Die abschüssige Wiese ist ein Renner. Wenn die Sonne scheint und Briten spielen, türmen sich dort die Menschen.

Zu der großen "Aus-der-Asche-von-Henman-erhebt-sich-Murray-Show" ( Guardian) strömten 42.228 - so viele waren seit 1868 an einem Donnerstag noch nie gekommen.

Hechten und hadern

Sie sahen, wie Henman hechtete und haderte. Zehn Jahre lang hatte ihn sein forscher Stil stets über die zweite Runde hinausgebracht.

Dieses Mal fanden seine Volleys selten ins Ziel, die Bälle sprangen höher ab, als sich Henman das wünschte, und die Unterstützung durch das Publikums war ihm auch zu wenig. "Macht endlich mehr Lärm", grummelte er, als er nach dem ersten Satz einige leere Reihen entdeckte.

Schon vor dem Turnier hatte er sich beklagt, dass die Bälle Tage vor den Spielen aus der Vakuumverpackung gerissen und immer mehr Grassorten gepflanzt werden, die die Filzkugeln höher springen lassen.

Als alles vorbei war, brummte er, er sei sofort zum Rücktritt bereit - wenn mit ihm alle die Arbeit einstellen, die in ihrem Beruf nur die Neuntbesten der Welt sind. Henman war enttäuscht, aber auch froh. Endlich ist der Spuk vorbei.

Gewachsene Ansprüche

"Henman Hill" hieß die Wiese vor der Videowand bislang. Jetzt heißt sie "Murray Mountain". Aus dem Hügel wird ein Berg, die Ansprüche wachsen.

Im vorigen Jahr hat Murray bei den US Open das Junioren-Turnier gewonnen. Henman ist das nie gelungen. Als er im Herbst sein Davis-Cup-Debüt gab, marschierte Murray gleich nach seinem ersten Punkt ans Netz und zeigte seinem Gegner die Faust.

Wann hatte es das zum letzten Mal gegeben? Ein guter britischer Tennisspieler, der Emotionen zeigt? Über Henman höhnte die Komikerin Linda Smith einst, er sei "die menschliche Form der Farbe beige". Murray ist grell, laut, unerschrocken.

Als Neunjähriger hat er miterlebt, wie der Psychopath Thomas Hamilton an seiner Schule 16 Schüler und einen Lehrer erschoss. Murray war auf dem Weg zur Turnhalle, als Hamilton loslegte. Er überlebte, weil er sich im Büro des Direktors versteckte.

Um die Geschichte nicht mehr erzählen zu müssen, behauptete er lange, er stamme nicht aus Dunblane, sondern aus Stirling. Murray ist jung. Noch erzählt er gerne. Dass er sich gerade von seiner Freundin getrennt hat.

Dass seine Mutter ihm jeden Morgen das Frühstück bereitet. Dass es ihm als Davis-Cup-Spieler zusteht, in Wimbledon die besseren Umkleiden zu benutzen.

Dass er auf dem Weg zum Platz die Black Eyed Peas hört: But I would walk 500 miles, and I would walk 500 more, just to be the man who walked a thousand miles, to fall down at your door. Zu dem Massaker aber ist ihm wenig zu entlocken. Nur so viel: Ein Trauma sei nicht geblieben.

Als Zehnjähriger hat er sich dem Fußball zugewandt. Er war so gut, dass die Glasgow Rangers ihn zum Probetraining luden. Nach 18 Monaten kehrte er auf den Tennisplatz zurück, weil der Erfolg dort alleine in seinen Händen lag.

Als 15-Jähriger zog er nach Barcelona in die Academia Sanchez-Casal. Dort trainiert er noch immer. Durch und durch britisch ist der neue Traumträger also nicht. In der dritten Runde trifft Murray auf David Nalbandian; 2004 erreichte der das Halbfinale.

"Das Match werde ich verlieren", sagt Murray, aber das gleiche hat er vor der ersten Runde gegen den Schweizer George Bastl auch gesagt und seitdem noch nicht einmal einen Satz verloren.

Wie er mit den Erwartungen zurechtkommt? "Ich bin kein bisschen nervös", sagt Murray: "Ich habe ein ordentliches Selbstvertrauen." Das ist offensichtlich. Er spielt in Hemden von Fred Perry, dem letzten Briten, der in Wimbledon gewann. 1936 war das.

© SZ vom 25.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: