Weltsportler, Teil IX: Laura Flessel:Die Rache der Wespe

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Frankreichs Fecht-Idol Laura Flessel und ihre vielen Rollen: Schwarzes Vorbild, Diva, Mutter, Sünderin - und immer muss sie Siegerin sein.

Von Josef Kelnberger

Laura Flessel will ihrer Tochter ein Vorbild sein, will ihr beibringen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, will sie zum großartigsten Menschen auf der ganzen Welt machen, mindestens. Deshalb wird sie ihrer Leilou eines Tages einen Dopingfall erklären müssen.

Laura Flessel, zufrieden nach dem Wettkampf. (Foto: Foto: AP)

Aber das Thema kann warten. Leilou ist erst zwei, ihr größtes Talent sei das Plappern, sagt die Mutter, das tun alle Zweijährigen, scheinbar ziellos, aber die wesentlichen Dinge erfassen sie wie Seismographen. Leilou hat erkannt, dass zu Hause die Worte gewinnen und Sieg eine wesentliche Rolle spielen, eine übermächtige Rolle, das spürt auch die Mutter.

"Wenn ich zum Training fahre", erzählt Laura Flessel, "fragt sie mich immer: Was machst du, wohin gehst du, Mama, fährst du wieder zum Gewinnen? Nein, antworte ich dann: Ich fahre zum Fechten." Laura Flessel lacht ihr kehliges Lachen, das so ansteckend ist, dass man mitlachen muss, auch wenn klar ist, dass man über eine Notlüge lacht. Natürlich geht Mama nicht nur zum Fechten außer Haus. Sie will gewinnen, jeden Tag, bei jedem Anlass.

Der Pariser Osten, Bois de Vincennes, Avenue du Tremblay. Hier hat der französische Staat seinen olympischen Sport angesiedelt. Institut National du Sport et l'Éducation physique, kurz: Insep. Eine kleine Stadt für sich, mit Wohnheim, Friseur, Kirche, Kinderhort. Der Pförtner sagte, er habe Laura heute gesehen, und er lachte dabei, als sei die Sonne für ihn persönlich aufgegangen. Flache Backsteinhäuser verteilen sich großzügig in einer Parklandschaft. In der Fechthalle ist das Waffengeklirr verklungen. An den Wänden Trainingspläne, verstaubte Pokale auf einer Galerie, der Geruch von Schweiß, Fechter im Aufbruch.

Laura Flessel sitzt in einer Ecke auf einem Stuhl. Betreuer ziehen Blut aus ihrem Arm, pieksen mit einer Pinzette an ihren Fingern, lassen Strom durch ihre Gelenke laufen. Sie trägt Jeans, ein buntes T-Shirt, doch die ganze Halle läuft auf ihre Haare zu. Eine rostbraun gefärbte Lockenmähne, Strähnchen mit Schnürchen und Bändchen, ein Kunstwerk von Frisur, das schreit: Wo ich bin, da ist der Mittelpunkt.

Diva und Mutter

Das Fechten, sagt sie, habe ihr die Möglichkeit gegeben, ihre Grenzen zu überschreiten. Im Grunde sei sie "ein superschüchterner Mensch". Sollte das stimmen, so hat das Mädchen vom französischen Übersee-Departement Guadeloupe all ihre Grenzen gesprengt. Erste Olympiasiegerin im Degenfechten der Frauen, Weltmeisterin, Diva, öffentliche Mutter, schwarzes Idol Frankreichs, größter Star des Fechtens.

Sie kann jede ihrer Rollen bis ins Detail analysieren, sie ruft sie wie Versatzstücke ab und fügt sie zu einem großen Ganzen zusammen. Sogar ihre Rolle als prominenteste Sünderin des Fechtsports, eine dreimonatige Sperre nach einem Dopingbefund, zwingt sie da hinein. Das ganze Gespräch wird auf den Satz zulaufen: "Der Rassismus war Unrecht, die Sperre war Unrecht. Ich habe alles überwunden."

Sie hat gerade das letzte Trainingslager vor der WM abgeschlossen, es geht nach Kuba, das gibt ihr Gelegenheit, den großen Bogen ihrer Karriere zu spannen. Auf Kuba hat sie bei Jugendmeisterschaften eine von den Niederlagen kassiert, die sie nie vergisst und die sie antreiben. "Ich weiß, es existieren Sieg und Niederlage, aber Niederlagen sind nicht für mich. Die sind für die anderen. Ich hasse sie, das wird immer so sein. Das liegt mir im Blut. Wirklich im Blut." Sie fährt mit den Händen über ihre Unterarme, als habe sie Juckreiz befallen bei dem Gedanken: Niederlage.

Als Kind wollte sie weiter springen, schneller laufen, höher klettern als ihre beiden Brüder. Als sie im Fernseher Abenteuerfilme sah, spielte sie Korsar, Pirat, Musketier, Zorro. Die Eltern schickten sie zum Tanzen, aber das Röckchen hasste sie, also durfte sie in einen Fechtklub.

Ihr erster Fechtmeister versuchte, dem wilden Mädchen mit Musik den Rhythmus des Fechtens beizubringen. Eine Schule fürs Leben mit Musik: Klassik, Pop, Samba, Zouk, die Volksmusik Guadeloupes, je nach Stand des Gefechts, so steht das in ihren Biographien. Sie lächelt, wenn man sie daran erinnert, es ist nur die halbe Wahrheit. "Es kommt jetzt langsam wieder", sagt sie. Die Musik ging ihr verloren, als sie mit 18 nach Paris kam, ins Internat des Insep.

Sie lernte den Winter kennen, fremdes Essen, weiße Arroganz. Ihr Zimmer tapezierte sie zum Schutz vor dieser Welt mit Postkartenbildern von der Karibik. Sie stammte aus einer Mittelklassefamilie, Vater Meteorologe, Mutter Lehrerin, sozialer Aufstieg war kein Antrieb gewesen, die Waffe in die Hand zu nehmen. Doch jetzt spürte sie Widerstand, auch im Nationalteam. "Sie wollten mich davon jagen, das war ein weiteres Schlüsselerlebnis."

1996 gewann sie in Atlanta Olympiagold im Einzel und mit dem Team. Die Trainer hatten sie umgeschult auf Degen, und diese Waffe brachte ihre Talente zur Vollendung. Im Degenfechten gilt der ganze Körper als Trefferfläche, nicht nur Oberkörper oder Rumpf. Und Laura entnervte alle mit ihren Stößen zum Fuß, das kann keine wie sie, weil sie so schnell ist, so athletisch, so wagemutig. Man gab ihr den Kampfnamen guêpe, Wespe, ihr Trainer nannte sie "Killerin". So eroberte sie Frankreich, sechs Jahre, nachdem sie verschüchtert angekommen war.

Viele Schlagzeilen

Laura Flessel fühlt sich auf Augenhöhe mit den schwarzen französischen Fußballern, die zwei Jahre nach ihrem Olympiasieg Weltmeister wurden. "Wir sind aus der Anonymität heraus getreten. Das ist in einem Land, wo es genügend Rassismus gibt, doch immerhin ein Fortschritt." Es gibt jetzt viele schwarze Fechter im französischen Verband, sie kommen fast alle aus der Karibik, aus ihrer Heimat, sie beansprucht das ihr persönliches Erbe. Hochglanzmagazine verkauften sich mit ihr auf der Titelseite. Ihre Hochzeit mit dem Journalisten Denis Colovic machte 1996 mehr Schlagzeilen als ihr Olympiasieg. Sie war ein Star.

In einem Interview antwortete sie auf die Frage nach ihrem liebsten Licht: "Das Licht des Mondes. Seine Intensität gleicht dem Blick einer Mutter, die ihr schlafendes Kind beobachtet." Mutter und Athletin, das war ihre nächste Rolle, nachdem sie von den Olympischen Spielen aus Sydney zurückkehrte. Unter großer öffentlicher Anteilnahme trug sie das Kind aus, vier Monate nach der Entbindung verlor sie bei der WM 2001 in Nimes erst im Finale gegen die Deutsche Claudia Bokel.

Laura Flessel war jetzt wieder ein Rollenmodell, eine moderne Mutter, die alles unter einen Hut bekam, Partnerschaft, Kind, Sport, ihren Job im Tourismusbüro der Stadt Paris. Doch dann kam der Moment, der alle Siege, ihren Ruf in Frage stellte. Vor einem halben Jahr noch durfte man sie nicht darauf ansprechen. "Kein Problem", sagt sie heute, "es ist meine Geschichte, im Guten wie im Bösen."

Coramin Glucose, einem Stimulans, dessen Substanzen seit zwanzig Jahren auf der Dopingliste standen. Darf man so naiv sein, argwöhnten Rivalinnen, ein Mittelchen zu schlucken, das man nicht kennt? Und war es nötig, dass sie bei der WM in Lissabon noch startete, nur weil ihre B-Probe noch nicht analysiert war?

Für solche Fragen ist sie nicht zu haben, in Grauzonen fühlt sie sich fremd. Und so verpasste sie, wie mancher andere Athlet in der Lage, die Gelegenheit, Größe zu zeigen. Der Teambetreuer demissionierte, der Weltverband sperrte sie den Regeln gehorchend drei Monate, ging aber von ihrer Unschuld aus, die französische Presse ging äußerst mitfühlend mit ihr um.

Doch Flessel gab sich nicht zufrieden. Sie wollte, dass ihr Name rein gewaschen werde, wie solle sie später ihrer Tochter einen Dopingfall beibringen? Weil ihr Sponsoren kündigten, forderte sie vom französischen Verband Schadenersatz. Erst seit der nachgab, fühlt sie sich erlöst. "Das ist ein Sieg für mich." Sie horcht den Worten nach, und ihr Gesicht entspannt sich.

Eine ewig Unersättliche

Von den Teamkolleginnen werde sie jetzt "Mama" genannt, sagt sie, weil sie ständig warnt: Passt auf, wenn ihr das dies esst, wenn ihr jenes trinkt. Das Fechten macht ihr wieder Spaß. Sie hat den Weltcup 2003 gewonnen, sie wird auch nach den Spielen in Athen nicht aufhören. Sie fühlt, dass sie noch nicht ausgelernt hat, sie übt jetzt mit dem Nationaltrainer der Männer und dessen Team. "Ich kann Sachen erfinden, ausprobieren. Das ist, was mich beim Fechten antreibt: Ich liebe es zu spielen." Doch am Ende muss sie gewinnen, daran wird sich niemals etwas ändern.

Bei der WM in Kuba will Flesel nun Rache nehmen, wie sie sagt, abstrakte Rache dafür, dass sie vergangenes Jahr wegen der Dopingaffaire in Lissabon nur Fünfte wurde. Rache, woher kommt nur diese Aggressivität, Madame Flessel? "Es ist nicht Aggressivität. Ich beobachte gut und handle schnell. Also würde ich es Entschlossenheit nennen."

Nennen wir es also Entschlossenheit, doch die Frage nach dem Warum kann nicht einmal sie selbst beantworten. Sie kann nur versuchen, mit ihrem Talent umzugehen. Trainerin will sie nie werden, sie wäre zu streng. Und Leilou solle, wenn sie groß ist, lieber einen Mannschaftssport treiben. Oder einfach bloß schwimmen lernen. Lernen, sich im Gleichgewicht zu halten. Das würde schon genügen als Sport, sagt Laura Flessel.

Beim Abschied hält sie inne, sie will dem Gespräch noch eine Überschrift zu geben. Sie sagt: "Ich bin eine ewig Unersättliche". Dann geht sie, ihre Sporttasche auf Rollen ziehend. Mit Schwung wuchtet das Gepäck, darauf drei Degen, ins Auto. Dann gibt sie Gas. Sie muss Leilou im Hort abholen.

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