Weltmeisterschaft im Rugby:Gasse ins Unheil

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Wegen eines falschen Spielzugs kurz vor Schluss verliert England bei der Heim-WM ausgerechnet gegen Wales. Nun muss der Gastgeber gegen Australien gewinnen.

Von Tobias Schächter, London/München

Chris Robshaw wird diese Entscheidung niemals vergessen. Beim Stand von 25:28 gegen sein Team votierte der Kapitän der englischen Rugby-Nationalmannschaft für eine Gasse statt für einen Straftritt. Im Rugby können das Mannschaften in manchen Situationen durch ihren Kapitän selbst entscheiden. Zum Trainerteam, das im Rugby oben auf der Tribüne sitzt, gibt es keinen Kontakt. Es waren nur noch drei Minuten zu spielen in Twickenham, dem englischen Rugby-Tempel im Süden von London.

Mehr als 85 000 Zuschauer im Stadion und Abermillionen an den Fernsehgeräten sahen dieses dramatische WM-Spiel zwischen England und Wales. Die Waliser hatten einen Zehn-Punkte-Rückstand in der Schlussphase durch einen grandiosen Versuch von Gareth Davies und eine Erhöhung durch Matchwinner Dan Biggar plötzlich in eine Führung verwandelt. Und nun, kurz vor dem Abpfiff, hielten alle Zuschauer nach Robshaws Entscheidung für eine sehr lange Sekunde lang den Atem an: Hätte Robshaw sich für einen Straf-Kick entschieden, wäre dieses Spiel wohl Unentschieden ausgegangen, obwohl der Kick aus 30 Metern und von Außen hätte getreten werden müssen. Aber der englische Kicker Owen Farrell hatte an diesem Abend ebenso eine Quote von 100 Prozent seiner Kicks wie der Waliser Dan Biggar. Robshaw aber entschied sich nach Absprache mit seinen Kickern dafür, aufs Ganze zu gehen: Die Engländer wollten den Sieg durch einen Versuch.

Für einen Versuch, bei dem ein Spieler das Rugby-Ei ins Malfeld des Gegners legt, gibt es fünf Punkte - für einen verwandelten Kick nur drei. Ein paar Sekunden und einen Ballverlust später wusste Robshaw, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte: Wales gewann dieses epische Match 28:25. "Es ist meine Schuld", erklärte Robshaw ehrenhaft.

Die walisischen Zeitungen hingegen titelten: "Das heldenhafte Wales betäubt Twickenham". Und egal, was dieser walisischen Mannschaft während dieser Weltmeisterschaft noch passiere - dieser Sieg werde in Erinnerung bleiben. Während der Partie hatten die Waliser drei wichtige Spieler durch eine Verletzung verloren: Scott Williams, Liam Williams und Hallam Amos. Doch auch von diesen Rückschlägen ließ sich die Auswahl von Trainer Warren Gatland nicht entmutigen.

"Das ist definitiv einer der größten Siege meiner Laufbahn, ein großartiges Ereignis", erklärte Sam Warbuton, der walisische Kapitän. Es war nicht nur wegen der alten Rivalität der beiden Nachbarn ein unvergessliches Spiel. Die Niederlage bedeutet für den WM-Gastgeber England womöglich das Aus schon in der Vorrunde. Nur die beiden Gruppenersten der vier Fünfergruppen überstehen die Vorrunde und ziehen ins Viertelfinale ein. Das ist in der Gruppe A besonders schwer, weil in England, Wales und Australien drei Teams konkurrieren, denen auch Titelchancen bescheinigt werden. Die Engländer stehen deshalb am kommenden Samstag gegen Australien unter Siegzwang.

Für Englands Kapitän Chris Robshaw gab es keinen Trost, er sagte: "Wir wollten den Sieg, jetzt sind wir am Boden. Die Zuschauer haben uns wahnsinnig unterstützt, wir haben sie enttäuscht." Englands Trainer Stuart Lancaster verließ seinen Platz nach dem Abpfiff mit versteinerter Miene. Später sagte er schneidend: "Wenn man so eine Entscheidung trifft, dann muss man sie auch zu einem guten Ende bringen." Er sei komplett niedergeschlagen, gab Lancaster zu. In den Tagen zuvor war der Trainer wegen seiner eigenwilligen Defensivaufstellung von der englischen Presse kritisiert worden. Seine Mannschaft spielte außerordentlich gut nach vorne, verlor aber das Spiel, weil in der Defensive immer wieder kleine Fouls zu Kicks für Wales führten und Dan Biggar sie alle aus allen Lagen verwandelte.

Nach dem enttäuschenden Viertelfinal-Aus bei der WM vor vier Jahren in Neuseeland will der Weltmeister von 2003 in der Heimat unter dem Disziplinfanatiker Lancaster seine Reputation wieder herstellen. In Neuseeland hatte Englands Team sich durch Eskapaden neben dem Spielfeld zum Gespött gemacht. Und nun diese bittere Niederlage gegen Wales. Für Kapitän Chris Robshaw und seine Mitspieler wird nun besonders eine Parole wichtig, die an den Wänden in den Katakomben im "Twickers" den Spielern beim Gang auf den Rasen zusätzliche Motivation verleihen soll: "Belief" steht dort. Doch den Glauben an sich selbst wieder aufzubauen, ist nach einem solchen Negativerlebnis nicht einfach.

© SZ vom 28.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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