Vor dem Länderspiel:Handball, Hektik und Unbeholfenheit

Lesezeit: 3 min

Spieler nachnominieren, Kapitän auswechseln, Handball spielen und ein erstes Machtwort sprechen: Der sportliche Arbeitstag von Jürgen Klinsmann entpuppte sich als äußerst ereignisreich.

Von Philipp Selldorf

Kurz nach halb drei fand sich am Empfangstresen des Hotels Kempinski in Neu-Isenburg der Mann ein, den niemand, wirklich niemand auf der Liste hatte, als in der Fachpresse die so genannten Perspektivspieler für Jürgen Klinsmanns "Projekt 2006" zusammengereimt wurden. Alle möglichen Leute hätte man ja erwartet für das erste Länderspiel unter der Regie des neuen Dreigestirns des DFB, am Mittwoch in Wien gegen Österreich, doch dann stand plötzlich, in Jeans und T-Shirt, die halb volle Reisetasche lässig geschultert, Thomas Linke, 34, vor der Rezeption.

Schulterklopfend willkommen geheißen wurde er, wie es einem besonderen Ehrengast gebührt, vom neuen Manager der Nationalmannschaft höchstpersönlich. Als Oliver Bierhoff den Münchner Verteidiger dann aber fragte, ob er fit sei für die WM 2006, verzog Linke das Gesicht, als ob ihm ein steinalter Kalauer erzählt worden wäre.

Manches geriet unfreiwillig ein wenig komisch am ersten - sportlichen - Arbeitstag des neuen Bundestrainers und seiner Mitstreiter. Dass ein Fotograf rücklings mitten im Blumenkübel landete, als er versuchte, Jürgen Klinsmann auf dem Weg zum Trainingsplatz aufzunehmen, blieb eine Episode am Rande - wenngleich sie durchaus symbolisch war für einige Hektik und Unbeholfenheit an diesem Tag.

"Schock in der Morgenstunde"

Und Linkes Aushelfen in der Nationalelf, von der er sich nach der WM in Asien vor zwei Jahren verabschiedet hatte, ist wohl auch nur eine Anekdote, die auf die Abreise der verletzten und wieder abgereisten Stammkräfte Nowotny und Friedrich zurückzuführen ist. Linke lag noch im Bett, seine Frau Antje versorgte in der Küche den kleinen Sohn, als Klinsmann ihn erreichte.

"Es war ein Schock in der Morgenstunde", berichtete er, aber er zögerte nicht mit der Zusage, vorausgesetzt, dass er nicht ein weiteres Mal aus dem Familienglück gerissen werde: "Jürgen hat mir zwar gesagt, dass mir die Tür zur Nationalelf immer offen steht, aber ich komme wirklich nur für dieses eine Spiel."

Beim ersten Training hat Linke noch gefehlt, wodurch ihm einige interessante Einblicke in die neuen Gepflogenheiten entgingen. Erstaunen stellte sich schon darüber ein, dass die überwiegend von Klinsmanns Assistent Joachim Löw geleitete Einheit mit einem Handballspiel begann, bei dem auch Jens Lehmann mitmachte, weil Oliver Kahn und sein Privatausbilder Sepp Maier verbissen arbeitend das Tor belagerten und augenscheinlich dabei niemanden in ihrer Nähe haben wollten.

Lehmanns auffallend fröhliches Mitwirken geriet allerdings zum Unglück von Miroslav Klose, der bei der ungewohnten Übung mit dem kräftigen Torwart kollidierte und zwei Stunden später wegen eines nicht zeitig kurierbaren Pferdekusses auf dem Oberschenkel abreisen musste. Für ihn wurde der Schalker Gerald Asamoah nachnominiert, der davon ebenso überrascht wurde wie Linke (Klinsmann: "Ich brauche ihn wegen seiner Erfahrung") und der vom U 21-Team abgezogene Verteidiger Robert Huth vom FC Chelsea.

Was Kahn und Maier dazu bewegte, ihre Tätigkeit mit derart wütender Entschlossenheit anzugehen, entschlüsselte sich dann in den Interviews, die Oliver Bierhoff am Rand des Trainingsplatzes gab. Offen gab er zu verstehen, dass Sepp Maier, der seit 1988 die Schlussmänner der Nationalelf schult, seinen Job beim DFB die längste Zeit gemacht hat, sollte er weiterhin solche Interviews geben, wie gestern eines in der Welt erschienen ist.

Darin hatte sich Maier zornig darüber geäußert, dass Klinsmann die unter Rudi Völler unantastbare Torhüterhierarchie im Nationalteam im Handumdrehen gelockert hat und künftig vermehrt außer dem ewigen Stellvertreter Lehmann auch den aufstrebenden Stuttgarter Timo Hildebrand einsetzen will. Maier ist dagegen. "Der kann seine Meinung haben, aber die soll er intern bekunden, anders geht's nicht Richtung 2006", erklärte Bierhoff, "Jürgen hat das in aller Deutlichkeit klar gemacht - und das wird dann auch in Zukunft nicht mehr passieren."

Asamoah ersetzt Klose

Auch Oliver Kahn hat man schon entspannter erlebt als auf dem Trainingsplatz und später bei der Pressekonferenz im Hotel, wo er das Debattenthema Torwartrotation als "aberwitzig und absolut lächerlich" geißelte. Man hätte jetzt zwar meinen können, dass er vor allem deswegen so unverhältnismäßig wütete, weil ihm Jürgen Klinsmann am Morgen mitgeteilt hatte, dass in Zukunft Michael Ballack Kapitän der Nationalmannschaft ist.

Aber davon wollte Kahn selbstredend nichts wissen. "In gewisser Weise erleichtert" sei er, dass er das ihm vor drei Jahren verliehene Amt los sei, behauptete Kahn - ähnlich klingt es, wenn ein abgewählter Premierminister sagt, dass er sich auf die nächsten Jahre Oppositionsarbeit freue und entsprechend gab auch Jürgen Klinsmann seinen Eindruck wieder: "Oliver Kahn hat das top-professionell aufgenommen, erste Klasse." Proportional zur schlechten Laune des alten Amtsinhabers ist die Stimmung bei Jens Lehmann gestiegen, denn der meint: "Jetzt habe ich Möglichkeiten dazubekommen, mehr zu spielen."

Klinsmann widerspricht dieser Deutung in seiner Regierungserklärung nicht: "Jens Lehmann ist der Herausforderer, und Oliver muss seinen Platz verteidigen." Kahn versichert jedoch, dass er seinen Posten noch lange nicht räumen werde, "ich glaube nicht, dass wir in einem Jahr noch ein Wort darüber verlieren müssen, wer im Tor steht."

Der Mann, der Linke und die übrigen Mitspieler in Wien auf das Feld führen wird, hörte sich Kahns trotziges Grummeln amüsiert an. Seine Beförderung betrachte er als Vertrauensbeweis, sagte Michael Ballack. Es sei "ein schöner Beginn des Projekts 2006" gewesen, bilanzierte Klinsmann schließlich seinen ersten Trainerarbeitstag - er meinte das optimistisch, nicht ironisch.

© Süddeutsche Zeitung vom 17.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: