Volleyball-EM der Männer:Verirrt im Wald

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Am Boden: Der deutsche Libero Ferdinand Tille verarbeitet das Aus im EM-Viertelfinale gegen Bulgarien in der Vertikalen. (Foto: Conny Kurth/imago)

Die deutsche Auswahl scheitert im Viertelfinale klar an Gastgeber Bulgarien. Elf Wochen vor der Olympia-Qualifikation in Berlin muss Bundestrainer Vital Heynen seinen Ansatz überdenken.

Von Sebastian Winter, Sofia/München

Georg Grozer reiste als Erster aus Sofia ab, am frühen Donnerstagmorgen. Der abrupte Aufbruch des Diagonalangreifers hatte aber nichts mit dem Viertelfinal-Aus der deutschen Volleyballer gegen Gastgeber Bulgarien zu tun, dessen 3:0 (25:19, 25:23, 25:23) von 12 500 Zuschauern am Abend zuvor in der Arena Armeec euphorisch beklatscht worden war. Grozer eilte mit seiner Frau und den beiden Töchtern schnell zurück, weil er am Mittag schon in Bonn sein Visum für Südkorea abholen musste. Denn dort wird Grozer am kommenden Dienstag schon Volleyball spielen, sein russischer Klub Lokomotiv Belgorod hat ihn an die Daejeon Samsung Bluefangs ausgeliehen. "Ich bin gerade ein bisschen im Stress", sagt Grozer. Vielleicht ist dieser Stress ganz gut, um nicht in jenes schwarze Loch zu fallen, das sich unter den deutschen Volleyballern aufgetan hat nach dieser Europameisterschaft.

Grozer, dem an guten Tagen 20 Punkte gelingen, kam auf ganze drei Zähler

Sie haben ja nicht nur den ersten Halbfinaleinzug seit 1993 verpasst und damit auch die direkte Qualifikation für die nächste EM 2017 in Polen. Sie haben auch ihr Ziel um Längen verfehlt: das Finale. Das Vorhaben, zum ersten Mal eine Medaille bei den kontinentalen Titelkämpfen zu gewinnen: krachend gescheitert. Vor allem hat die Mannschaft um Grozer und Kapitän Jochen Schöps so schlecht wie seit Jahren nicht mehr gespielt. Das muss Bundestrainer Vital Heynen knapp drei Monate vor dem Olympia-Qualifikationsturnier in Berlin die meisten Sorgen bereiten.

Denn eigentlich hatten sich die Volleyballmänner unter Heynen langsam an die Weltspitze herangetastet, Olympia-Fünfter 2012 in London, im vergangenen Jahr eine historische Bronzemedaille bei der WM in Polen, Sieger in diesem Sommer bei den Europaspielen. Und auch die EM-Vorbereitung sei "gut bis sehr gut gelaufen", wie Heynen am Donnerstag im Flughafen von Sofia sagte, wo sein Telefon nicht mehr stillstand. Heynen ist enttäuscht, sehr sogar, aber er sagt, das Ergebnis sei "verteidigbar". Immerhin sind noch stärker eingeschätzte Nationen ebenfalls im Viertelfinale gescheitert: Weltmeister Polen, Olympiasieger Russland, der Weltliga-Zweite Serbien. Aber wer will sich schon mit Verlieren vergleichen? Vor allem hadert der Bundestrainer mit dem extremen Leistungsabfall seit dem Turnierstart.

Schon die Auftaktpartie in der Gruppe A gegen Bulgarien (0:3) desillusionierte die Deutschen, das zweite Spiel gegen die Niederlande (2:3) schenkten sie nach Heynens Plänen her, um mit dem abschließenden Gruppensieg gegen Tschechien (3:0) im Viertelfinale Polen aus dem Weg zu gehen. Das umstrittene Pokerspiel, für das Heynen viel Kritik erntete, war letztlich fruchtlos, auch weil gegen Bulgarien die Führungsspieler versagten. Grozer, dem an guten Tagen 20 Punkte gelingen, kam auf drei Zähler, seine Angriffsquote lag bei unterirdischen 18 Prozent, bevor er für Kapitän Schöps ausgewechselt wurde. Der lange verletzte Außenangreifer Denis Kaliberda hatte ähnliche Werte, Zuspieler Lukas Kampa traf nicht selten falsche Entscheidungen. "Viele Leistungsträger haben nicht das normale Niveau gebracht", sagt Heynen. Und wenn man die Körpersprache der Deutschen und der Bulgaren verglich, dann las man in den Gesichtern der Deutschen bald eines: Resignation. "Das Feuer war bei den Bulgaren", sagt Heynen.

Eine tiefergehende Erklärung hatte der Bundestrainer da noch nicht gefunden für die schwachen Auftritte, aber offenbar haben die hoch gesetzten Ziele das Team auch eingeschnürt in seinen Erwartungen. Es spielte selbst bei den Siegen nie befreit auf, was auch Grozer aufgefallen ist: "Ich hatte das Gefühl, dass wir nie richtig die Form aus dem Sommer gefunden haben." Der 30-Jährige sagte auch: "Wir haben gesehen, dass es nicht so einfach geht, dass wir immer 110 Prozent geben müssen. Das ist das einzig Positive." Offenbar hatten es sich die Spieler ganz bequem gemacht auf ihren Erfolgen. Heynen muss sich zugleich fragen, ob sein Ansatz noch der richtige ist.

In der Vorbereitung hatte er seine Spieler ja einzeln im Wald ausgesetzt, sie sollten selbstständig mit einer Landkarte einen gemeinsamen Treffpunkt finden, dort ein Lagerfeuer entzünden und in selbst errichteten Zelten schlafen. Sie hörten sich später noch Motivations-Vorträge von diabeteskranken Kindern und Afghanistanerprobten Soldaten an. Heynen ist auch das Drumherum wichtig, weiche Faktoren, nicht nur Taktik, Technik, Krafttraining. Die Frage ist, ob er nicht manche Spieler mit diesem Ansatz überfordert. Andererseits ist er der bislang erfolgreichste Trainer der DVV-Auswahl - der Verband wollte nach dem wortkargen Technokraten Raúl Lozano einen starken Kommunikator. Und der steht nun vor seiner größten Bewährungsprobe: die Qualifikation für Rio.

Vom 5. bis 10. Januar treffen die Deutschen in Berlin unter anderem auf Polen, Russland und Weltliga-Gewinner Frankreich. Nur der Turniersieger ist direkt in Rio dabei, der Zweite und der Dritte bekommen noch eine weitere Qualifikationschance bei einem Turnier in Japan. Noch nie war für die Europäer der Schritt zu den Spielen so groß - seit der Weltverband entschieden hat, aus Europa nur noch vier Nationen zuzulassen. Die deutsche Mannschaft hat in diesem harten Rennen nur noch ein paar Wochen Zeit, ihre Form wiederzufinden. Heynen hat vor, seine Spieler in den nächsten Wochen bei ihren Klubs zu besuchen, er möchte sie auch motivieren nach diesem Rückschlag. Es soll nicht jenes nun sehr wahrscheinliche Szenario eintreten, vor dem sich alle fürchten: Dass die eigentlich so starke Generation Grozer als Zuschauer der Spiele in Rio abtritt.

© SZ vom 16.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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