Videobeweis:Toter Punkt

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Aus? Nicht aus? "Selbst die Technik stößt an Grenzen", sagt Schiedsrichter Manuel Gräfe. (Foto: Wolfgang Rattay/Reuters)

Eine neuer, besonders kurioser Aspekt in der Diskussion über den Videobeweis: die Torauslinie.

Von Ulrich Hartmann, Mönchengladbach

Nach der zweiten Saison mit dem Videobeweis können alle Debatten um den Sinn dieses Hilfsmittels in einer essenziellen Frage zusammengefasst werden: "Ist es ein Mehr an Gerechtigkeit wert, dem Spiel etwas wegzunehmen, was es über Jahrzehnte hinweg ausgemacht hat?" Diese auf den schmerzlichen Verlust explosiver Emotionen abzielende Frage formuliert kein skeptischer Kulturwissenschaftler und auch kein wertkonservativer Fanvertreter. Diese Frage stellt Manuel Gräfe, 45. Er ist jener Schiedsrichter, der beim Spiel zwischen Gladbach und Dortmund eine der kuriosesten Entscheidungen der Saison traf und nachher extrovertiert begründete, warum er einen Ball, der unmittelbar vor Dortmunds 1:0 klar im Aus gewesen zu sein schien, gut gab.

Auf den 7,32 Metern, die ein Tor breit ist, wird durch Kameras haarklein vermessen, ob ein Ball die Torlinie wirklich überschritten hat. Auf den restlichen jeweils 30 Metern links und rechts eines Tors, der Torauslinie, wird nichts vermessen. Genau dort holte Marco Reus den Ball vor der Flanke, die zum 1:0 führte - und das einzige Bild, das die Öffentlichkeit zu sehen bekam, zeigte, dass die Kugel die Torauslinie komplett verlassen hatte. Allerdings ist ein Ball rund, und wenn er auf dem Rasen schon nicht mehr im Weißen ist, könnte er oberhalb davon noch ein ganz kleines Bisschen über der Linie gewesen sein. Könnte. So spekulativ argumentierte dann auch Gräfe. "Es wäre hilfreich gewesen", gab er zu, "wenn wir eine Torauslinienkamera gehabt hätten, dann hätten wir objektiv sagen können: Der Ball ist im Spiel, und die Entscheidung war korrekt - so zweifelt der eine oder andere, und das verstehe ich."

Einer, der ganz besonders zweifelte, war Gladbachs Vizepräsident Rainer Bonhof. Die Fohlen erholten sich von dem Tor nicht mehr, verloren am Ende 0:2 und verpassten durch die Niederlage die Champions League. Bonhof urteilte harsch: "Es war nicht das erste Mal, dass Herr Gräfe gegen uns pfeift - der Ball war klar aus, und solange ich hier etwas zu sagen habe, wird Gräfe uns nicht mehr pfeifen." Gräfe rechtfertigte sich nach dem Spiel minutenlang und weitete dieses besondere Fallbeispiel zur grundsätzlichen Frage aus, ob der Fußball den Videobeweis wirklich braucht. "Selbst die Technik stößt an Grenzen", sagte er, "und irgendwann muss man sagen, ob das gut ist für den Fußball oder nicht." Doch statt den Videobeweis wieder abzuschaffen, könnte es eher noch auf eine Ausweitung hinauslaufen. Jochen Drees, in der Bundesliga der Projektleiter für den Videobeweis, fände den zusätzlichen Einsatz von Torauslinienkameras hilfreich: "Alles, was uns weiterhilft, kritische Situationen zweifelsfrei aufzulösen, begrüße ich."

Bonhofs drastische Worte parierte Gräfe gelassen. "Ich kann seinen Frust nachvollziehen, ich habe früher selber gespielt", sagte der Berliner und glaubt, dass sich die Aufregung legen wird: "Was kurz nach so einem Spiel aus den Emotionen heraus gesagt wird, sollte man nicht überbewerten - ich glaube, mit ein bisschen Abstand wird Herr Bonhof es anders sehen, spätestens dann sollte man jedenfalls zu mehr Fairness, Respekt und Objektivität zurückfinden."

© SZ vom 20.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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