Turnen:Buhen, pfeifen, Daumen senken

Lesezeit: 4 min

Alle Abneigung gegen die USA entlädt sich in Protestkundgebungen gegen Turn-Olympiasieger Paul Hamm. Die hektische Jury reagiert - und verleiht dem Publikum damit ungeahnte Macht.

Von Josef Kelnberger

Es war schon nach Mitternacht, und Paul Hamm hatte seine ausdruckslose Miene wie in Beton gegossen. Ein kleiner Turner aus den USA, blond und bleich, saß auf dem Podium, still und duldsam trug er die Last, die die Welt auf seine Schultern lud. Die Außenpolitik von George W. Bush. Die allgemeine Abneigung der Griechen gegen Amerikaner. Die Lust des griechischen Publikums an der Selbstinszenierung. Die alte Rivalität der USA mit Russland. Die Tücken des Turnreglements. Die Unfähigkeit von Kampfrichtern. Die Feigheit von Verbandsfürsten.

Als US-Reporter ihn dazu bewegen wollten, zumindest ein paar harsche Worte über jene Funktionäre zu verlieren, die ihm den größten Triumph seiner Sportlerlebens nehmen wollen, sagte er: "Wenn ich mich äußern würde, wäre das respektlos gegenüber den betreffenden Personen." Man hätte Paul Hamm vermutlich aus heiterem Himmel und grundlos eine Ohrfeige verpassen können. Er hätte sich artig bedankt.

Die unglückselige olympische Erfolgsgeschichte des Paul Hamm, 22, aus dem US-Bundesstaat Wisconsin begann mit seinem denkwürdigen Sieg im Mehrkampffinale. Er kämpfte sich nach einem missratenen Pferdsprung in den letzten beiden Übungen von Rang zwölf zurück auf Rang eins und siegte vor dem Südkoreaner Yang Tae Youn. Hingefallen, aufgestanden, aufgestiegen in den Olymp, aber dann: Es stellt sich heraus, dass Hamm numerisch nur dank eines Fehlers der Jury gewonnen hatte.

Wand des Protests

Die hatte, warum auch immer, bei der Barrenübung des Südkoreaners einen falschen Ausgangswert ermittelt: 9,9 statt 10,0. Der Turnweltverband FIG feuerte die Kampfrichter, kündigte eine Reform des Wertungssystems an. Aber den Schwarzen Peter spielte man öffentlich Paul Hamm zu. Bruno Grandi, der italienische FIG-Präsident, setzte den Wunsch in die Welt, es wäre doch sportlich von Hamm, wenn er sein Gold dem Südkoreaner schenken würde. Eine selbst für Sportfunktionäre erstaunlicher Fall von fehlendem Rückgrat. Paul Hamm lehnte am Montag ab mit dem Hinweis, er habe sein ganzes Turnerleben lernen müssen, sich den Entscheidungen von Kampfrichtern zu unterwerfen.

Dabei bleibe er. Mutter Cecile warb in einem Brief an die Zeitung USA Today um Verständnis und klagte: "Was einer der glücklichsten Momente unseres Lebens hätte sein sollen, ist nun nervenzerrüttend und traurig." Da wusste sie noch gar nicht, was ihrem Paul noch alles blühen sollte in Athen.

Montagabend, Finale am Reck. Das Drama beginnt mit der Übung des Russen Alexej Nemow. Viermal nacheinander fliegt er über die Reckstange, dann noch zweimal. Eine Flugshow, eine Zirkusnummer, das Volk jubelt. Es verzeiht dem Russen den Standfehler bei der Landung. Dann die Wertung: nur 9,725. Der Russe, das kommt erschwerend hinzu, liegt hinter einem Amerikaner zurück, hinter Paul Hamms Zwillingsbruder Morgan (9,787). Die Griechen buhen und pfeifen und senken ihre Daumen Richtung Kampfgericht, die Russen im Publikum schließen sich begeistert an. Nemow lacht zunächst und klatscht dem Publikum Beifall. Doch der Tumult legt sich nicht. Als Paul Hamm ans Gerät treten will, prallt er ab an einer Wand des Protestes.

Alle Abneigung gegen Amerika und Amerikaner und diese unübersichtliche Turnwelt bündelt sich in dem Lärm. In der Jury bricht Hektik aus, die Kampfrichter aus Kanada und Malaysia werden gedrängt, ihre Noten zu erhöhen. 9,762 wird nun angezeigt. Aber das reicht nicht für Platz eins. Das Publikum findet nun Gefallen an seiner Macht. Neuer Tumult. Der legt sich erst, als Paul Hamm Nemow auf die Matte bittet. Der bringt das Publikum mit beschwichtigenden Gesten zum Schweigen.

Paul Hamm hat zehn Minuten warten müssen, bis er ans Gerät darf, dennoch turnt er eine zwar nicht spektakuläre, aber anspruchsvolle Übung ohne Makel, die mit 9,812 Punkten und Rang eins belohnt wird. Die Wertung entspricht wohl dem Reglement, ist aber für einen Laien schwer verständlich. Und das Publikum hat nun sowieso keine Lust mehr, irgendetwas zu verstehen. Wieder Aufruhr. Der Italiener Igor Cassina, gottlob, turnt ebenfalls fehlerfrei. Die Jury tüftelt lange und gibt auch ihm eine 9,812, die dank der besseren Vornote zum Sieg reicht. Nicht auszudenken, wenn der Amerikaner gewonnen hätte.

Wahrer olympischer Geist

Der Lärm aus Athen wird noch lange nachhallen in der Turnwelt. Den Russen Nemow sah man hinterher außerordentlich fidel. "Ein bisschen unfair" sei seine Wertung gewesen, sagte er. Sein Verband sollte tags darauf einen Protest beim IOC einlegen, er selbst ahnte aber wohl, dass er zumindest den Sieg nicht verdient hatte. Der US-Verbandschef rühmte ihn für "wahren olympischen Geist". Der Italiener Cassina lobte, Hamm habe sich tapfer geschlagen nach zehnminütiger Wartezeit, schließlich sei so eine Reckübung ja nicht ungefährlich. Aber seinen eigenen Sieg sah Cassina nicht geschmälert.

Und dann saß da noch, nach Mitternacht, Paul Hamm auf dem Podium. "Ich habe noch nie ein so lautes Publikum erlebt", sagte er, "ich dachte, ich bin in einem Film. Aber ich bin stolz darauf, wie ich mich unter den Umständen geschlagen habe." Dann kamen wieder die Fragen nach dem Mehrkampfgold. "Tief im Herzen" fühle er sich als gerechter Olympiasieger, erklärte Paul Hamm mit der Stimme eines Sprechautomaten. Er werde die Medaille nicht freiwillig zurückgeben, aber er werde sich natürlich jeder Entscheidung der Funktionäre beugen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als in seine vertraute Welt zurückzukehren: trainieren, turnen, und Entscheidungen treffen andere.

In den Gängen unterm Stadion traf man noch Morgan Hamm, den Zwillingsbruder. "Stolz auf Paul" sei er, sagte Morgan. Eigentlich gilt er als der stärkere von den beiden, dies sollten seine Spiele werden, aber dann kam ein Trainingsunfall dazwischen, ein Arm war gelähmt. Aber genug davon. Sonst wird die Geschichte noch viel trauriger.

© Süddeutsche Zeitung vom 25.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: