Turn-WM in Stuttgart:Die Sohle kommt zu kurz

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Aus schmerzhaften Erfahrungen gelernt: Die deutschen Turnerinnen arbeiten mit den Physiotherapeuten des VfB Stuttgart daran, ihre Füße zu stärken.

Von Volker Kreisl, Stuttgart

Gelenkkörper im Sprunggelenk: Elisabeth Seitz hat ihre Schmerzen überwunden und turnt am Donnerstag im Mehrkampffinale. (Foto: Laurence Griffiths/Getty Images)

Klingt niedlich: Sesambein. Ist es aber nicht. Das Sesambein ist zwar klein, "ein Knöchelchen", wie die Turn-Trainerin Ulla Koch sagt, aber es kann viel anrichten, es kann Pläne torpedieren und eine ganze Turnerin, die sich auf den ersten großen Karrierehöhepunkt ihres Lebens vorbereitet, für Wochen außer Gefecht setzen.

Dieser Höhepunkt ereignet sich gerade in Stuttgart bei den vorolympischen Weltmeisterschaften, auf den auch alle Deutschen das ganze Jahr über hingearbeitet haben. Für die Spiele 2020 haben sie sich vor fünf Tagen qualifiziert, nun folgt die eigentliche Ernte bei dieser WM. Für die Turnerinnen des deutschen Verbandes DTB stehen am Donnerstag und am Wochenende die Einzelauftritte an, Elisabeth Seitz und Sarah Voss sind in den Mehrkampf eingezogen (Do., 16 Uhr/ARD). Am Samstag hat Elisabeth Seitz Medaillenchancen am Stufenbarren (ab 16 Uhr), am Sonntag turnt dann die Kölnerin Sarah Voss am Schwebebalken um eine möglichst gute Platzierung (ab 13 Uhr).

Um dahin zu kommen, haben Team und Trainerstab zuvor viel Neues probiert. Man achtet schon länger mehr auf gute Ernährung, genügend Regeneration oder auch auf die Trittsicherheit. Balkenoffensive hieß diese Initiative, eine Investition in die Zukunft sollte es sein, und zwei WM-Medaillen hat sie ja auch mit eingebracht. Nun aber folgt die nächste Offensive, denn was liegt näher, als das zu stärken, woran Kochs Sportlerinnen zuletzt am meisten litten, womit aber im Turnen und fast überall im Sport der Erfolg fällt oder steht - nämlich die Füße?

Der Hebel im Fuß fehlte - da konnte die Sprungspezialistin Sarah Voss nicht mehr springen

Im Mittelfuß befindet sich also das Sesambein, jenes Beispiel für die komplizierten Zusammenhänge im Fuß. Es bewirkt einen größeren Hebel für die Sehne, weshalb zum Beispiel Sarah Voss am Sprung, am Boden und am Balken so hoch hinauskommt, dass sie hierzulande zu den großen Hoffnungen zählt. Dann aber zog sie sich eine Entzündung in der Wade zu, die über Ferse und Sehne in den Fuß wanderte und den Sprunghebel außer Gefecht setzte. Womöglich war dies der letzte von vielen anderen Anlässen für die Bundestrainerin, um zu sagen: "Wir müssen uns mehr mit den Füßen beschäftigen."

Da ist es hilfreich, dass im großen Stadion neben dem Stuttgarter Turn-Forum ein weiterer Sport professionell betrieben wird, vor allem mit den Füßen - vom Fußball-Zweitligisten VfB Stuttgart. Mit dessen Physiotherapeuten arbeiten die Turner schon länger zusammen, denn egal bei welchem Sport, es geht immer um dasselbe: eine gestärkte Muskulatur.

Womöglich wäre auch Elisabeth Seitz, die seit zehn Jahren auf höchstem Niveau turnt, nicht immer wieder von Fußschmerzen zurückgeworfen worden, hätte sie ihre Füße systematischer trainiert. Wegen freier Gelenkkörper im Sprunggelenk musste sie zweimal operiert werden. Emelie Petzs zusätzlicher Knochen, der die Achillessehne gereizt hat - ein Phänomen, das jeder zehnte Mensch hat - wurde nun entfernt, doch auch sie konnte in der WM-Vorbereitung nicht vollständig trainieren.

Ausfall wegen Fußproblemen - das soll möglichst nicht mehr vorkommen

Gereicht hat es aber für Olympia in Tokio und für Spannung beim deutschen Publikum noch bis Sonntag. Genauso wichtig ist Koch aber die Zukunft der Füße. Und dabei verrät sie ein Detail, das niemandem auffällt, obwohl auf der Turnbühne gar keine Schuhe im Einsatz sind: Besonders hübsche Füße haben Turnerinnen eher nicht. "Senkfüße, Spreizfüße, Plattfüße", alles sei dabei, nach Jahren der Belastung. Und das, obwohl fürs Springen nicht nur ein gesundes Sesambein unerlässlich ist, sondern auch eine starke Muskulatur in der Fußsohle. Turnerinnen haben zwar keine großen Bizeps' und Superheldenkörper wie die Männer, aber auch enorme Kräfte in Armen und Beinen. "Durch das Krafttraining haben viele Einschränkungen in den Fußgelenken", sagt Koch, "die vielen kleinen Fußknochen werden in Mitleidenschaft gezogen." Die Sohle kommt zu kurz.

Dass eine ihrer Turnerinnen mit dem abstrakten Hinweis auf Fußprobleme nicht antreten kann, das soll möglichst fast gar nicht mehr vorkommen. Koch plant also systematische Analysen, Trainingspläne und vor allem ein neues Bewusstsein für eine vernachlässigte Körperregion. Es geht dabei nicht um Kraftpumpen im herkömmlichen Sinne, sondern um Stabilität im Detail, um Feinarbeit, die sich in den Alltag fortsetzt. Koch sagt: "Das ist eine Sache der Selbstverantwortung, da muss man wirklich in sich sein, und genau wissen, wie bewege ich jetzt meine Füße."

Wer weiß, vielleicht erhält ja mancher Senkfuß so ganz nebenbei ein elegantes Fußgewölbe. Das wäre ein erfreulicher Nebeneffekt, auch wenn er nicht in die Wertung eingeht.

© SZ vom 10.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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