Turn-Trainer Andreas Hirsch:Kein Bangen mehr

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Letzte Handgriffe in einem aufreibenden Sport: Andreas Hirsch. (Foto: Michael Ruffler /imago)

Von Athen über London nach Tokio: Andreas Hirsch tritt nach 18 bewegten Jahren als Chefcoach der deutschen Turner in den Hintergrund.

Von Volker Kreisl, München

Wie aufreibend dieser Job sein kann, das hat Andreas Hirsch im Oktober noch einmal erlebt. Cheftrainer Turnen heißt nicht nur, immer wieder verletzte Athleten zu ersetzen, alle paar Jahre neue Regeln anzuwenden und die Pläne zu überarbeiten. Cheftrainer Turnen heißt auch, immer wieder um die Zukunft zu zittern.

Turnen ist eine der Sportarten, bei denen alles auf Olympia hinausläuft, nur wer immer wieder dabei ist, dessen Perspektiven sind gesichert. Bei der Heim-WM 2019 in Stuttgart im Oktober geriet die Qualifikation für Tokio aber in Gefahr. In Turn-Vorkämpfen wird in Untergruppen, "Subdivisionen", angetreten, über zwei Tage hinweg. Hirschs Riege war nach Tag eins nur Zehnte, die Hälfte hatte noch gar nicht geturnt, nur die besten zwölf würden nach Tokio reisen, und Hirsch sagte: "Wir können nur der Dinge harren, die da kommen."

Am Ende reichte es, die Deutschen sind dabei - als Zwölfte. Egal, diese junge Mannschaft bleibt weiter zu Gast in der oberen Etage, und der 61-jährige Trainer Hirsch kann sein Lebenswerk mit einem guten Gefühl abschließen. Eigentlich wollte der Berliner 2020 in Tokio an den Geräten stehen, doch Tokio findet erst 2021 statt, und Hirsch gab nun bekannt, dass er demnächst aufhört als Chefcoach. Auch wenn er bei der Bundespolizei als Zivilangestellter die Turner weiterhin begleiten wird - das Bangen als Hauptcoach ist vorbei.

Begonnen hatte Hirschs Karriere 2002, als der passable ehemalige Turner und erfolgreiche Jugendtrainer dazu berufen wurde, das schwächelnde Nationalteam systematisch aufzurichten. Die folgenden 18 Jahre waren dann für Hirsch, der große Gefühle doch lieber herunterdimmt, geprägt von Überraschungen, großen Glücksmomenten, Sportdramen und auch schweren Rückschlägen.

Es ging hoch und runter, in schneller Abfolge. Bald hatte Hirsch einen noch kaum bekannten, erst 15-jährigen Turner namens Fabian Hambüchen ins Team geholt, der 2003 in Anaheim/Kalifornien die Qualifikation für die Spiele in Athen dank seines Talents am Reck sicherte. Olympia hatte das junge Team nun vor Augen, doch mitten in der Vorfreude stürzte der deutsche Meister Ronny Ziesmer beim Sprung, und ist seitdem vom Hals abwärts gelähmt. Das lässt einen Trainer am Sinn des Berufs zweifeln, Andreas Hirsch zog sich etwas zurück, führte Gespräche, auch mit Ziesmer, und machte schließlich weiter.

Es folgte ein nachhaltiger Aufschwung der Turner, zudem im weiteren Sinne Ziesmers Fortschritte gehörten, der irgendwann Rollstuhl-Biker wurde und immer wieder auch Turn-Wettkämpfe besucht. Seine Kollegen turnten in Athen, wo Hambüchen die Kontaktlinsen verlor und mit Brille ans Reck ging. Sie turnten 2005 bei der WM in Melbourne, wo erstmals Marcel Nguyen seinen Tsukahara-Abgang am Barren zeigte; dann ein Jahr später in Dänemark, wo Hambüchen seine ersten WM-Medaillen holte; ferner in Stuttgart, wo das Team Dritter wurde und Hambüchen Weltmeister. So ging es weiter, über Peking und viele weitere Medaillen bis nach London.

Die Spiele 2012 waren der Höhepunkt in Hirschs Karriere, und es passte zu seiner Art, dass er damals das Zentrum der olympischen Aufregung, die Mixed-Zone, anderen überließ: Reck-Silbergewinner Hambüchen und Doppel-Silbergewinner Nguyen (Barren und Mehrkampf). Nguyen erklärte seinen Erfolg und sein Tattoo, Hambüchen kündigte an, in Rio 2016 Gold zu holen, was ihm auch gelang, und Hirsch stand still grinsend dahinter und musste nach vorne gebeten werden, um dann zu betonen, jetzt gehe es um die Sportler, nicht um ihn.

Vielleicht dachte er in diesem Moment aber auch ein bisschen an Philipp Boy, den WM-Zweiten von Rotterdam, der nun halb verletzt dabei war, aber ein Tief durchmachte, der schwer enttäuscht war, vielleicht weil ihm Hirsch in der Vorbereitung zu viel zugemutet hatte. Auch dies war ein Drama, wenn auch nur sportlich, ähnlich wie der Auftritt von Andreas Toba in Rio, der mit gerissenem Kreuzband noch Pferd turnte, damit, wenn schon nicht er, wenigstens die anderen weiterkamen.

Am Ende hatten sie alle verinnerlicht, was Hirsch nun als Grundlage seines Erfolges in der Einzelsportart Turnen definierte: Zu den zahlreichen Medaillengewinnen kam das deutsche Männerturnen "nur mit einem Team".

© SZ vom 28.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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