TSV 1860 München:Symptome des Zerfalls

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Die Löwen sind noch nicht abgestiegen, fühlen sich aber bereits wie ein Zweitligist.

Von Gerald Kleffmann

Rostock - Karl Auer stand vor der Kabine, er sah ermattet aus. Die 90 Spielminuten zuvor hatten ihm zugesetzt, und so blieb dem stämmigen Vorsitzenden des TSV 1860 an seinem "schwersten Tag als Präsident" nichts anderes zu tun, als Durchhalteparolen zu verbreiten.

"Solange alles möglich ist, hoffen wir", sagte er tapfer und wirkte dennoch so erschöpft wie ein Boxer nach zwölf Runden. "Man kann nicht sagen, dass den Spielern der Ernst der Lage nicht bewusst gewesen ist . . . auf der anderen Seite . . . " Auer schwieg. Er suchte nach Worten, seine Lippen bewegten sich stumm. Nach ewigen Sekunden sammelte er sich und versprach: "Der sofortige Wiederaufstieg ist unser Ziel."

Soweit ist es bei den Löwen nach diesem frustrierenden 0:3 (0:1) bei Hansa Rostock am Sonntagabend gekommen: Sie sind noch nicht abgestiegen - fühlen sich aber bereits wie ein Zweitligist.

Nicht ohne Grund. Vier Punkte beträgt der Rückstand des TSV auf den Nichtabstiegsplatz - bei zwei verbleibenden Spielen benötigt der Verein "Wunder", wie Verteidiger Torben Hoffmann fleht: eines im Heimspiel gegen Hertha, eines in Mönchengladbach. Wer mag daran glauben?

Die Symptome des Zerfalls sind überall sichtbar. In Rostock präsentierte sich 1860 wie meist in dieser Saison: harmlos, fehlerhaft, einfältig. Zwar stimmte "der Kampfgeist", wie Auer betonte. Doch "wenn wir solche saudummen Tore kassieren, wird's schwer", fasste Verteidiger Martin Stranzl zusammen. Vor dem 0:1 (15. Minute) hatte sich die Abwehr mit einem Lupfer übertölpeln lassen, Torwart Michael Hofmann köpfte den Ball zu Martin Max, der einschob.

Vor dem 0:2 (48.) riss Marco Kurz seinen ehemaligen Löwen-Spezl Max nieder, René Rydlewicz traf per Elfmeter. Das 0:3 (82.) durch Razundara Tjikuzu "brach uns endgültig das Genick", schilderte Stranzl, der ehrlich genug war einzugestehen, "dass wir ab dem zweiten Tor mies gespielt hatten".

Womit man beim Trainer und dessen Taktik ist. Gerald Vanenburg, seit drei Wochen in der Verantwortung, sagte vor der Partie: "Keine Experimente!" Es folgten: Experimente. Zum Beispiel eine Dreierkette in der Abwehr mit Kurz, Rodrigo Costa und Torben Hoffmann, die in dieser Konstellation noch nie auf dem Platz stand.

Hofmann erklärte sich dadurch "die Unsicherheiten in der Abwehr" und war froh, "keine Vollklatsche kassiert" zu haben. Ebenso unverständlich war Vanenburgs Wahl, drei Stürmer zu bringen. Fredi Heiß, Meisterlöwe von 1966 und seit kurzem im Aufsichtsrat, analysierte scharf: "Kioyo, Schroth, Agostino sind zu ähnliche Typen, die stehen sich im Weg." So sah es aus.

Bis auf zwei Schüsse von Schroth tauchte das Trio ab, allein gelassen vom Rest des Teams; einzig Roman Tyce fiel positiv auf. "Es kam nichts über die Flügel", so Heiß. Keine Flanken, keine Pässe. Stattdessen zeigten sich Risse im Gefüge. Marco Kurz verweigerte bei der Auswechslung den Handschlag an Trainer und Mitspieler, knallte die Schuhe auf den Rasen.

Hofmann kassierte wegen Meckerns die fünfte gelbe Karte, er ist wie Kurz gegen Berlin gesperrt. Und Vanenburg? Kümmert sich an diesem Dienstag in Eindhoven um eine Prüfung für den Trainerschein. Womit man beim Trainer und dessen Zukunft ist.

Noch ist nicht entschieden, ob Vanenburg bleibt, sagt Auer. Gespräche sollen folgen, diese Woche, nächste Woche. Der Präsident verriet: "Wir werden Fragen stellen, erwarten klare Antworten." Ob es so kommt, ist fraglich, bisher weiß keiner, was Vanenburg will. Zweifel regen sich ob dieses Zögerns, Hofmann deutete an, dass die Arbeit der Stimmungskanone Vanenburg auch kritisch betrachtet wird: "Götz war zu streng, bei Gerald haben wir nur einen Punkt aus drei Spielen." Und das mit drei verschiedenen Aufstellungen.

Der oftmals unterschätzte Auer hat dies registriert, sein Kommentar zeigt ungewohnten Biss: "Wir denken auch über Alternativen nach."

Trainer, Spieler, Taktik, Jugendkonzept, selbst die Rückkehr ins alte Grünwalder Stadion wird in Vereinskreisen wieder stärker diskutiert - steht derzeit alles zur Disposition bei 1860? Offenbar.

Schlimmer noch: Jetzt tauchen Vermutungen auf, die Lizenz des TSV wackle im Fall des Abstiegs. "Wie man so hört, könnte es finanziell Probleme geben", sagt ein Aufsichtsratmitglied. Nach Informationen der SZ sollen bis auf einen Spieler alle Profis Verträge besitzen, die ihnen in der zweiten Liga die gleichen Gehälter wie in der ersten Liga sichern. Das hieße: Bei einem Abstieg schleppt 1860 einen Gehaltsblock mit, bei dem, wie der Manager eines anderen Erstligisten erklärt, "man Bauchschmerzen bekommt".

Der TSV hätte nur zwei Möglichkeiten: die Spieler auf ein niedrigeres Gehalt runterzuhandeln, was schwierig wird - oder den Großteil des Kaders ablösefrei ziehen zu lassen und zu hoffen, der Rest des Teams bleibe finanzierbar.

Zweite Liga nur theoretischer Natur?

Auer jedenfalls schließt vorerst nichts mehr aus, er sagte: "Wir könnten in der zweiten Liga das Team so nicht halten." Der Zerfall stünde also bevor. Wie konnte es nur zu dieser Situation kommen? Bei den Löwen, sagt besagter Manager, scheint das Problem "in einer "Fehleinschätzung begründet: in der Annahme, die zweite Liga sei nur theoretischer Natur".

Und nun? Trennen nur noch zwei Spiele 1860 vom schlimmsten Szenario. Andererseits: "Wir müssen beide Spiele gewinnen und schauen, was herauskommt", sagt Profi Harald Cerny. Die Saisonbilanz könnte wunderlich sein. Sportlich wie finanziell.

© SZ vom 11.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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