Tour de Suisse:Seltsame Tage in Führung

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Jan Ullrich hat das Goldtrikot verloren. Der Rückstand beträgt aber nur 32 Sekunden. Sein Gefolge schwankt zwischen Rührung und Ungläubigkeit.

Von Andreas Burkert

Gut fünf Stunden war er an diesem Tag bereits unterwegs auf seinem Rad, und zwar auf jenem Abschnitt der Tour de Suisse, die als so genannte Königsetappe ausgewiesen war. Zwei Bergwertungen der Ehrenkategorie inklusive, die teils noch schneebedeckten Alpenstraßen Susten- und Klausenpass, die das Peloton am Donnerstag mit ihren zusammen mehr als 3100 Höhenmetern gequält hatten.

Nach so einem Tag setzt man sich gewöhnlich in den Teamwagen und lässt sich rasch ins Quartier chauffieren, zur erholsamen Schlummerstunde auf der Massagebank. Doch Jan Ullrich hatte es nicht besonders eilig.

Denn nach der Siegerehrung in der sonnigen Urnerland-Gemeinde Linthal, wo er erneut als Gesamtführender ausgerufen worden war, schwang sich Ullrich gleich wieder aufs Velo und radelte ins Mannschaftshotel - noch einmal gut 30 Kilometer auf der Landstraße 17 und am Ende hinauf zum Kerenzberg auf 748 Metern, wo man im "Römerturm" mit prächtigem Talblick auf den azurblauen Walsensee unterkam. Ullrich wusste durchaus, welche Zusatzschicht die Strecke für ihn bedeuten würde. Das hat ihm aber nichts weiter ausgemacht.

"Musste das sein?"

Zwei Wochen vor dem Start der Tour de France erfreut Jan Ullrich sein Umfeld mit einer Frühform und einem Eifer, dass er seinen Begleitern fast unheimlich wird. Rudy Pevenage etwa, sein belgischer Privatcoach, schwankt zwischen Rührung und Ungläubigkeit, wenn er an die letzten Wochen zurück denkt.

"Das ist doch nicht zu glauben, was der Junge in anderthalb Monaten anstellt", sagt er und erinnert sich dann fast beleidigt an jene Tage im April, als das Publikum Ullrich bei seinen Frühjahrseinsätzen als japsenden Radtouristen empfand.

"Ich frag' mich jetzt schon, ob das sein musste", meint Pevenage und antwortet sich selbst: "Ich glaube schon, denn Jan hat für sich eingeplant, dass die Tour dieses Jahr erst in der letzten Woche entschieden wird." Nach dem intensiven Grundlagenseminar im Mai werde Ullrich nun "von Tag zu Tag besser" und am ersten Julisamstag in Lüttich, da ist sich Pevenage jetzt sicher, "in so guten Form am Start sein wie vielleicht noch nie".

Ob der Olympiasieger von Sydney diesen Sommer wirklich seine eigenen Rekordwerte wieder erreicht, ist noch nicht gesichert. Aber die Anzeichen für diese Theorie mehren sich. In der Schweiz stellt sich der 30-jährige Rostocker jedenfalls derart souverän und selbstbewusst vor, dass ihm seine Gastgeber bereits vor der letzten Bergankunft in Malbun, Liechtenstein, zum Gesamtsieg gratulierten.

Zum achten Mal fahre der T-Mobile-Kapitän ihr Rennen, doch so stark hätten sie ihn hier noch nicht erlebt, versichern die örtlichen Chronisten. Ullrich empfindet das ähnlich, er sagt: "Jetzt möchte ich hier auch gewinnen, denn ich fühle mich sehr gut."

Am Donnerstag hatte Ullrich das bewiesen, als er mit seinem treuen Teamkollegen Giuseppe Guerini die Gruppe der Spitzenfahrer beeindruckend auseinander fuhr und damit das Goldene Trikot verteidigte. "Ullrichs Demonstration", titelte am Freitag der Züricher "Tages-Anzeiger", und auch Ullrichs verbliebene Konkurrenz um den Gesamtsieg klang recht ernüchtert.

"So, wie er in Form ist und in der Ebene Gas gibt, müsste ich einen Vorsprung von drei Minuten haben, um im Zeitfahren am Sonntag bestehen zu können", sagte der Basler Phonak-Profi Fabian Jeker, bis Freitag nur sechs Sekunden hinter Ullrich notiert. Jeker ergänzte: "Man kann ihn kaum halten."

Nun mag man einwenden, die Rundfahrt durch die imposante Schweizer Bergwelt sei schon einmal besser besetzt gewesen als bei ihrer 68. Ausgabe. Denn die Favoriten haben ihre Generalprobe allesamt bei der Dauphiné Libéré in Südfrankreich abgehalten. Rudy Pevenage ist das aber egal. Er verweist auf die verbliebenen Widersacher wie den Top-Ten-Kandidaten für die Tour vom Team Gerolsteiner, den drittplatzierten Österreicher Georg Totschnig ("Ullrich war so schnell, man konnte nicht attackieren").

Kein Grund zur Euphorie

Oder auf den abgehängten Schweizer Oscar Camenzind, der immerhin zweimal pro Trainingswoche seinen Hausberg Klausen nimmt, sowie auf den Aufsteiger Patrik Sinkewitz. Der junge Hesse, Ullrich vor Wochenfrist bei der Deutschlandtour in den Steilfahrten noch deutlich überlegen, hatte im Schlussanstieg gut eine Minute auf sein Vorbild eingebüßt. Pevenage lächelt und sagt: "Jan ist jetzt besser drauf als vor einem Jahr."

Vor einem Jahr hat Jan Ullrich hier Rang sieben belegt, zwischendurch geschwächt durch seine Pollenallergie. Danach lieferte er dem Seriensieger Lance Armstrong bei der Tour ein enges Duell. Nun sichert er sich auf den beiden letzten Etappen (live im DSF, jeweils 15.45 Uhr) womöglich endgültig den ersten Sieg in der Schweiz, nach der Tour 1997 und der Vuelta 1999 wäre dies erst Jan Ullrichs dritter Erfolg bei einer Landesrundfahrt.

Bei T-Mobile löst diese Aussicht noch keine Euphorie aus, aber zumindest große Zuversicht. Die Form bei der Schweiz-Rundfahrt sei kein Gradmesser für die Tour, sagt Teamchef Mario Kummer, "aber zumindest die moralische Seite sollte man nicht unterschätzen". Wobei er nicht nur an die Psyche seines prominenten Kapitäns denkt. Mario Kummer sagt: "Mit Sicherheit beobachtet die Konkurrenz, wie gut Jan drauf ist, und das wird ihre Laune nicht unbedingt heben."

© Süddeutsche Zeitung vom 19.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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