Tour de France:Augen auf und durch

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Christian Prudhomme ist der Mann, der die Tour retten soll: Die Fahrer starten in diesem Jahr vom Tiefpunkt, doch er will alles dafür tun, dass der Mythos nicht noch mehr unter die Räder kommt.

Andreas Burkert

Natürlich ist er früh morgens bereits hier, seit einer Stunde schon, dabei öffnet das mobile Dorf erst in ein paar Minuten. Dieses Dorf besteht aus Hunderten weißer Stellwände, aus denen Dutzende Büros und ein Pressesaal so groß wie ein Fußballfeld entstanden sind. Die Architekten der Tour de France haben das Dorf diesmal im riesigen "ExCel" arrangiert, dem gigantischen Messepark draußen im Osten Londons. Und das Büro des Tourdirektors Christian Prudhomme ist so schlicht gestaltet wie die übrigen, obwohl er hier doch so etwas wie der Bürgermeister ist. Doch an der Wand hängt nur ein einziger schmuckloser Bilderrahmen mit dem offiziellen Plakat der 94. Frankreich-Rundfahrt, dazu ein Holztisch und zwei Ledersessel, mehr ist da nicht. Ein sehr trister Ort demnach, an dem ein Mythos gerettet werden soll.

Nach außen hin cool: die Teilnehmer der Tour de France 2007. (Foto: Foto: dpa)

"Ich? Die Tour retten?" Monsieur Prudhomme lacht recht laut, er sagt: "Ich bin nicht Red Adair."

Mauern des Schweigens

Dabei wird von Prudhomme nicht viel weniger erwartet als vom amerikanischen Feuerwehrmann Adair, der Legende der Flammenbändiger. Der blonde Franzose mit dem kräftigen Händedruck hat nach allgemeiner Ansicht eine Legende des Sports vor dem Untergang zu bewahren. Wenn das überhaupt noch möglich ist. Von Massensprints und Bergankünften ist jedenfalls kaum noch die Rede, wenn es um das Monument des Radsports geht. Die Debatten drehen sich um Doping, um den chemischen Betrug oder um Fremdurin, den sich die kaltblütigsten Fahrer selbst in die Harnblase spritzen. Um den Kontrolleur auszutricksen.

Und vielleicht haben damals nicht alle Deutschen verstanden, weshalb Jan Ullrich, ihr Held so manchen Julis, vor einem Jahr kurz vor dem Tourstart nach Hause geschickt wurde. Aber nun hat es zuletzt diese vielen Geständnisse gegeben von Ullrichs früheren Kollegen beim Team Telekom und zuletzt von Jörg Jaksche. Jaksche hatte im Spiegel unter anderem erzählt, dass er bis zuletzt stets nur den Arm hingehalten habe und ein krankes Selbstverständnis des Metiers offenbart: "Es ist pervers, aber das Doping-System ist gerecht, weil alle dopen."

Christian Prudhomme hat die Enthüllungen aus Deutschland aufmerksam verfolgt, denn sie gefährden seine Liebe. Als seine Liebe bezeichnet der Familienvater die Tour und den Radsport, und wenn er davon erzählt, wie er als Siebenjähriger erstmals das größte Radrennen der Welt im Fernsehen erlebte und seitdem nicht mehr von diesem Spektakel lassen konnte, dann hört sich das bei ihm erstaunlicherweise gar nicht kitschig an. "Ich habe die Tour und den Radsport hier drin", sagt er dann noch und schaut einen mit seinen blauen Augen sehr fest an. Er zeigt auf sein Herz.

Wer etwas liebt, der kämpft leidenschaftlich dafür, und dies hat Prudhomme, 46, der Welt ja schon im vergangenen Jahr bewiesen. Denn er ist es gewesen, der kompromisslos den großen Favoriten Ullrich und all die anderen mutmaßlichen Kunden des spanischen Blutmischers Eufemiano Fuentes heimschickte. Wegen der aussagekräftigen Unterlagen der Guardia Civil. Ein Jahr später ist die sogenannte "Operación Puerto" immer noch nicht entschlüsselt, es ist wohl ein juristisches Rätsel für die Ewigkeit, dessen Lösung sportpolitische Mächte bremsen.

Und so muss Prudhomme trotz seiner Drohungen womöglich doch Fahrer starten lassen, die in Madrid bei Fuentes Blutbeutel hinterlegt haben könnten und vom früheren Gynäkologen zudem anderes Teufelszeug erhielten. 6000 Aktenseiten hat der internationale Radsportverband UCI von der spanischen Polizei erhalten, doch der wissbegierige Tour-Chef Prudhomme hat bisher keine weiteren Informationen erhalten. "Wir sind die Tour und kein Sportgericht, aber wir brauchen endlich komplette Listen von der UCI", sagt er ernst und erwähnt noch die jüngste Affäre namens "Men in Black"; sie bezog sich auf Fahrer des zwielichtigen Astana-Rennstalls um den deutschen Mitfavoriten Andreas Klöden. Die Männer in Schwarz hätten im Training dunkle Trikots getragen statt der offiziellen Ausrüstung, hieß es von der UCI - angeblich eine Tarnung vor den Kontrolleuren. "Aber wer sind die Men in Black, welche Fahrer?'', ruft Prudhomme. "Die UCI sagt es uns einfach nicht.''

Die Mauern des Schweigens, das ist der Eindruck, bröckeln nicht überall.

Prudhomme jedoch gebe sich alle Mühe, das sagen all diejenigen, die trotz der Widerstände und der Seilschaften die Erneuerung der verruchten Branche betreiben. Natürlich wird die Tour trotz der vielen schmutzigen Affären dennoch starten, an diesem Samstag am Themse-Ufer, ganz in der Nähe der Downing Street. Prudhomme lässt da keine Zweifel aufkommen. "Oder werden die Olympischen Spiele demnächst ohne den 100-Meter-Lauf oder den Marathon stattfinden?'', fragt er. Frankreichs Heiligtum startet allerdings zumindest ohne Klaus Angermann. Der frühere Tour-Reporter des ZDF hat Prudhomme einen Brief geschrieben und mitgeteilt, er werde wegen der vielen Enthüllungen um Ullrich, Erik Zabel oder Rolf Aldag auf seine 42. Teilnahme als Berichterstatter verzichtet. ,,Ich habe Klaus gestern angerufen'', erzählt Prudhomme und zeigt den Brief aus Wiesbaden. "Er hat gesagt, er sei 69 und könne sich vorstellen, demnächst doch wieder zu kommen.''

Die Tour wird also auf einen betrogenen Romantiker verzichten müssen, aber sie rollt weiter. Sie muss wohl. Denn das Rennen ist ein Riesengeschäft, nach Olympia und der Fußball-WM das größte Sportereignis der Welt; 224 Städte aus Frankreich und dem Ausland haben sich für 2008 als Etappenort beworben. Zwei Milliarden Menschen in mehr als 180 Ländern der Erde schauen den wundersam ausdauernden Fahrern am Fernseher ins Gesicht, wenn sich diese drei Wochen lang über steile Rampen bis zu den Gipfeln hochschrauben. Etwa 60 Millionen Euro Umsatz und einen Gewinn von weit mehr als zehn Millionen macht die "Amaury Sport Organisation'' (A.S.O.) angeblich nur mit der Tour, ihrem Kerngeschäft neben weiteren Events wie dem Klassiker Paris-Roubaix, der Rallye Dakar oder Golfturnieren.

Ein Jahr Pause. Solch ein Signal wäre selbst Prudhomme zu teuer.

Er kennt ja die Zwänge nur zu gut, die gerade durch die wertvollen Fernsehverträge entstehen. Er ist, was seinem Image sehr förderlich ist, nicht selbst Radprofi gewesen wie sein großväterlicher Vorgänger Jean-Marie Leblanc, der vergangenes Jahr endgültig abtrat. Prudhomme war 18 Jahre beim Fernsehen, moderierte beim Staatskanal "France 2'' die Sportsendung "Stade 2'', die Sportschau Frankreichs. Jeden Sonntag, 18 Uhr. "Christian ist in Frankreich sehr populär'', sagt Fréderique Galmetz, "und er hat schon damals als Moderator über die Probleme des Sports geredet - seine Sprache ist immer noch dieselbe.''

Fans, die bleiben

Madame Galmetz kennt Prudhomme seit Jahrzehnten, sie sind früher in Lille auf dieselbe Schule gegangen. "Aber damals haben wir uns nicht für Radsport interessiert'', sagt sie und lächelt ein wenig verlegen. Jetzt sehen sie sich wieder häufiger, Frau Galmetz, 42, leitet das Radsport-Ressort der französischen Sportzeitung L'Équipe. Die beiden sind somit Firmenkollegen: Das Blatt gehört ebenfalls dem mächtigen Amaury-Konzern.

Das leidige Thema Doping findet in L'Équipe durchaus statt, in diesen Tagen ausführlicher denn je. Vor zwei Jahren entlarvten die Redakteure den siebenmaligen Toursieger Lance Armstrong über nachträgliche Laboranalysen als Epo-Doper. "Ihr Deutschen entdeckt das Problem erst jetzt, aber wir in Frankreich wissen schon seit langer Zeit davon'', sagt Galmetz. Sie meint den Tour-Skandal um das französische Festina-Team, dessen Pfleger Willy Voet vor der Tour 1998 von der Polizei mit einem Kofferraum voller Präparate aus dem Giftschrank gestoppt worden war. Vor ein paar Jahren registrierte die Grande Nation betroffen die nächste Affäre, diesmal wurde dem Rennstall Cofidis die systematische Manipulation nachgewiesen. "Aber die Tour ist mehr als lügende Fahrer, sie ist größer'', sagt Madame Galmetz feierlich. "Denn die Tour, das sind vor allem die Bilder Frankreichs, die Landschaften, der Juli, die Ferien''.

Alles gratis zu besichtigen, entweder am Bildschirm daheim, wo die Quoten konstant bei mehr als 40 Prozent Sehbeteiligung liegen und somit "doppelt so hoch wie beim Tennis in Roland Garros'', wie Prudhomme betont. Oder die Fans feiern die Tour eben an der Strecke, wo jedes Jahr 15 Millionen Menschen stehen und einen flüchtigen Blick auf all die harten Jungs erhalten. Sollen sie doch allesamt spritzen und schlucken.

"Wir haben im Herbst 2005, nach der Armstrong-Geschichte, eine Umfrage gemacht, und was denken Sie, wie viele Menschen den Fahrern glauben?'', fragt Fréderique Galmetz. "96 Prozent trauen dem Peloton nicht'', sagt sie. "Sechsundneunzig!''

Fast alle - und Linus Gerdemann spürt in diesen Tagen genau dieses Misstrauen, das seinem Berufsstand und damit auch ihm entgegenschlägt. Aber er will den Generalverdacht nicht beklagen, "ich kann zum Beispiel die Medien verstehen'', sagt er. Gerdemann sitzt in der Lobby des Teamhotels, das sich gleich neben dem Kongresszentrum befindet. Von seinem Zimmer aus sieht er die endlosen Grauflächen rund um die Docklands, über dem Betonbunker lärmen die startenden Flugzeuge des angrenzenden London City Airport. Und das Ambiente wirkt angemessen für den Zustand der Tour und die Befindlichkeiten des jungen Mannes aus Münster.

Denn eigentlich müsste Gerdemann, 24, ja nicht nur sehr aufgeregt sein vor seiner ersten Teilnahme beim größten Radrennen der Welt - und aufgeregt ist er. Er müsste auch voller Vorfreude sein auf dieses Debut, doch er sagt: "Ich steige nicht mehr mit der gleichen Euphorie aufs Rad wie noch vor einem halben Jahr, nein, da würde ich lügen. Als Radfahrer man muss ja zur Zeit mit gesenktem Haupt aus dem Haus gehen.''

Gerdemann ist ein cleverer Kopf, die Haare trägt er etwas länger als die Kameraden, und mit seinen verwaschenen Jeans sieht er aus wie ein Student. Er trägt ein Pflaster am linken Ohrläppchen, ein unabhängiger Teamarzt führt neuerdings bei den T-Mobile-Profis Blutvolumentests durch. Das hat Gerdemann nun also davon, dass er im deutschen Radsport als Talent gilt. Er hat schon mal eine Etappe bei der Tour de Suisse gewonnen, bis dahin kannte ihn kaum jemand. Er begann erst mit 17, und auch nur wegen eines Unfalls; nach einem Schienbeinbruch wollte er sich auf dem Rad fit halten. Seit zwei Jahren ist er Profi, und beim T-Mobile Team, das voriges Jahr Ullrich suspendierte, ist er das Gesicht einer neuen Generation. Einer möglicherweise sauberen. Aber die Menschen zweifeln auch an ihm, er weiß das. Wie neulich nach der Katalonien-Rundfahrt, als er noch ein paar Trainingstage auf Mallorca anschloss: Da kam er am "Ballermann'' vorbei, "und dann haben die Leute eben mein Trikot gesehen und ein bisschen rumgebrüllt''. Dass er ja wohl voll bis oben hin sei, solche Sachen. "Da sieht man einmal, wie stark unsere Sportart in Mitleidenschaft gezogen worden ist.''

"Wir sind keine Freakshow''

Ist ihm denn jemals etwas angeboten worden? Solche Fragen versetzen Radprofis zumeist in einen seltsamen Ausnahmezustand. Viele von ihnen können zwar am Berg zunächst eine Schwäche vortäuschen und dann den anderen einfach davonfahren. Nur eine simple Frage zum Thema Doping beantworten, das können sie nicht. Linus Gerdemann aber hat offenbar kein Problem damit, was zunächst einmal nichts heißen muss. Immerhin kann man ihn ebenfalls auf seinen ersten Lehrmeister ansprechen, den inzwischen geständigen Epo-Doper Bjarne Riis. Der schlecht beleumundete Tour-Sieger von 1996 brachte ihn beim Team CSC auch mit dem italienischen Sportarzt Luigi Cecchini zusammen, und eine derartige Zusammenarbeit gilt aus gutem Grund als verdächtig. Er habe die Zusammenarbeit beendet, betont Linus Gerdemann, "der Name fiel ja im Zusammenhang mit Fuentes, und das war mir eine Nummer zu heiß''.

Aber noch einmal: Ist ihm Doping schon einmal begegnet? Nein, sagt Gerdemann und erwähnt dann noch, dass er in diesen unsicheren Tagen ganz froh sei, dass er das Abitur gemacht habe.

Junge Fahrer, die keine fürchterlichen Schlangenlinien hinlegen, wenn sie schlichte Fragen hören, auf solche Burschen hofft Christian Prudhomme in den kommenden drei Wochen. "Ich erwarte mir Höhepunkte und Überraschungen'', sagt er, ,,vielleicht gewinnt Cavendish, der junge Brite, ausgerechnet hier in England, vielleicht entdecken wir einen jungen Franzosen.'' Die Tour sei zu phantastisch, um unterzugehen, "sie ist einfach wunderbar''. Vor Razzien habe er jedenfalls keine Sorge, die Polizei könne gerne kommen. "Ich habe keine Angst davor, denn wir sind keine Freakshow, die Justiz muss ihren Job tun, und wir wollen das auch.''

Christian Prudhomme sagt, er freue sich sehr auf die Tour.

© SZ vom 6.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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