Taktik:Mit Tempo, Tempo aus dem Dickicht

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Experten erwarten eine WM des offensiven Hochgeschwindigkeits-Fußballs. Klinsmann und Löw liegen im Trend, die Frage bleibt: Können die Deutschen das?

Christoph Biermann

Seit Jürgen Klinsmann und Joachim Löw die deutsche Fußball-Nationalmannschaft übernommen haben, befinden sie sich im Kampf gegen einen Gegner von großer Beharrungskraft: den Rückpass. Er ist für sie das Symbol jenes Fußballs, den ihr Team auf keinen Fall spielen soll. Der Rückpass nämlich verlangsamt das Spiel und steht damit dem "Projekt Tempo" entgegen, das unausgesprochen über der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft im eigenen Land gestanden hat. Und wenn man sich anschaut, wie zurzeit eigentlich gekickt wird, könnten Geschwindigkeit und Tempo wirklich die zentralen Begriffe im Fußball des WM-Jahres 2006 werden.

Nun ist das zunächst nichts Neues, denn immer schon war es besser, wenn ein Spieler schneller war als sein Gegner. Dass der Ball schneller als jeder Spieler sei, lehrte überdies schon Sepp Herberger. Und höchstes Tempo nach der Eroberung des Balles war bereits in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts für Herbert Chapman elementar wichtig. Der legendäre Trainer von Arsenal London hatte herausgefunden, dass Angriffe am gefährlichsten sind, wenn man sie innerhalb von acht Sekunden abschließt. "Je schneller man vor das Tor des Gegners kommt, desto weniger Hindernisse stellen sich einem in den Weg", sagte er.

Das ist auch acht Jahrzehnte später noch so, und doch sind die Umstände des Spiels grundsätzlich andere. Um den Ball herum hat es sich zuletzt nämlich immer mehr zusammengeklumpt. Das ist eine Folge jenes historischen Wechsels von der Abwehrarbeit, die auf den Gegenspieler orientiert war, hin zum Ball. Seit man nicht mehr den Mann deckt und ihm dazu folgt, sondern sich auf den Ball zuschiebt, ist der bespielte Raum erstickend eng geworden.

Die Reihen fest beieinander

Weil heute die meisten Spieler unglaublich viel laufen können, ist er noch weiter zusammengeschnurrt. Zudem haben die Trainer ihre Abwehr- und Mittelfeldreihen näher aneinander gerückt, auf dass dem Gegner der Weg zum Tor möglichst verstellt und die Frage erlaubt ist, ob wir bei der Weltmeisterschaft vielleicht unter Defensive und Torarmut werden leiden müssen.

Die Erfahrungen auf der Spitzenebene des europäischen Vereinsfußballs könnten dafür sprechen. Selbst die besten Mannschaften der Champions League boten nur noch einen festen Angreifer auf, und bei Ballverlust verwandelten sich sofort alle Stürmer in Verteidiger, wie man im Trikot des FC Barcelona selbst bei Ronaldinho sehen konnte.

Als Folge solch einer massiven und zugleich hoch entwickelten Defensive fielen im Durchschnitt der 126 Spiele in der Champions League nur 2,27 Treffer, wo es in der Vorsaison noch 2,68 gewesen waren. Im Zentrum des Spiels war es so eng, dass man sich fragen musste: Wie kommt man da bloß wieder raus?

Tempo, Ausdauer, Ballbeherrschung

Für Ottmar Hitzfeld bietet sich die Lösung beim Blick auf die Finalisten der Champions League an. Sowohl dem FC Barcelona als auch Arsenal London attestiert der Meistertrainer, den "Fußball der Zukunft" zu spielen, und spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Konkurrenz entsprechend "Schnelligkeit und Schnelligkeitsausdauer" steigern müsse. Urs Siegenthaler modifiziert das noch ein wenig dahingehend, dass er eine Art erweiterten Geschwindigkeitsbegriff anbringt. "Für mich ist entscheidend, wie schnell ein Spieler die Handlungsmöglichkeiten findet", sagt der Chefscout des deutschen Trainerteams.

Der Schweizer fordert dabei Fähigkeiten ein, die alle mit Tempo zu tun haben. Das kann mal ein Dribbling sein oder der direkte Pass, auf jeden Fall müssen die Spieler schnell auf den Beinen und im Kopf sein, um die Situation auf dem Platz richtig einzuschätzen. Tja, um all das wirklich umzusetzen, was einem da in Kopf und Beine kommt, sollte man auch noch den Ball beherrschen können. Selbstverständlich fällt einem da wieder Ronaldinho ein, der über Optionen verfügt wie kein anderer, denn er wagt Dribblings, die kein anderer wagen darf, und spielt Pässe, von denen man gar nicht gedacht hätte, dass man sie spielen kann.

"Wer keine Handlungslösungen hat, spielt zurück", sagt Siegenthaler. Womit wir wieder beim Rückpass wären, dem Ausdruck allen Übels. Am schlimmsten ist er dann, wenn sich die Chance auf ein Tor eröffnet. "Der erste Pass muss in die Spitze gehen", sagt Uwe Rapolder. Der Bundesligatrainer, im Winter beim 1. FC Köln entlassen, wird während der WM als Experte bei einem Fernsehsender auftreten. Besagtem ersten Pass kommt deshalb eine so große Bedeutung zu, die auch Klinsmann und Löw immer wieder predigen, weil der Gegner in dem Moment, da der Ballbesitz wechselt, mitunter noch nicht wieder optimal zur Verteidigung aufgestellt ist. Dann muss man nicht der notorischen Enge entfliehen, weil es sie einen glücklichen Moment lang noch gar nicht gibt.

Dazu bedarf es auf dem Platz jedoch strenger Organisation und Ordnung. "In Deutschland wird oft von Flexibilität gesprochen und dann rennen alle nur durcheinander", sagt Rapolder. Bei den Topmannschaften dieser WM wird man sehen, dass die Spieler ihre Positionen strikt einhalten und alle Abweichungen davon eingeübt sind. Denn nur so ist man für den Fall gewappnet, wenn das Spiel umschlägt zum Ballbesitz oder zum Ballverlust. Wird der Ball erobert, muss es gleich Möglichkeiten geben, gefährlich zu werden. Geht er hingegen verloren, muss möglichst schnell wieder die Enge hergestellt sein.

Kulturschlacht Abwehr versus Angriff

Doch zu welchem Fußball wird das im deutschen WM-Sommer führen? Siegenthaler hat die Konkurrenz bei diesem Turnier ausgespäht und glaubt, dass wir "tendenziell offensiven Fußball" erwarten dürfen. "Der englische Fußball hat viel dazu beigetragen, und die Weltspitze spielt offensiv", sagt er. Wird wirklich der Tempofußball aus der Premier League die Mannschaften zu schwungvollen Auftritten animieren?

Liegt Offensive in der Luft? Das Finale der Champions League würde entgegen sinkender Torquoten dafür sprechen, denn es standen sich dort zwei prinzipiell offensive Teams gegenüber. Die große Kulturschlacht Abwehr vs. Angriff wurde jedoch schon im Viertelfinale geschlagen, als der FC Barcelona mit seinem auf Kreativität angelegten Spiel gegen die Defensivkönige des FC Chelsea siegte.

Deren von José Mourinho gepflegte Spielweise ist natürlich auch eine Möglichkeit, der Enge zu entfliehen, und bei der WM werden wir sie wieder sehen. Bei der Elfenbeinküste etwa, und das nicht nur, weil Didier Drogba auch dort spielt. Die Ivorer stürzen sich aus der Tiefe der eigenen Hälfte so schnell nach vorne, dass Herbert Chapman darüber bestimmt jubeln würde. Weniger auf die Defensive setzen, aber ähnlich aufs Tempo drücken werden die Engländer, bei denen es die ungebrochene Neigung zum direkten Spiel in die Spitze gibt. Bei der Europameisterschaft 2004 waren Chancen und Grenzen dieses Spiels zu erleben. Es leidet gelegentlich unter seiner Hast, kann aber auch sehr überwältigend sein.

Die Holländer werden wieder auf ihr über Jahrzehnte gepflegtes Flügelspiel setzen, denn auf den Außenpositionen haben sie in Arjen Robben und Robin Van Persie Spieler, die kein bisschen langsamer als David Odonkor sind, aber wohl doch die besseren Fußballer. Vielleicht sind diese Flügelflitzer in Oranje die einzigen richtigen Außenstürmer des Turniers, denn vielfach werden hinter dem einsamen Stoßstürmer drei Mann nachrücken, die man Halbstürmer oder einfach nur Mittelfeldspieler nennen könnte.

Hitzfelds Geheimfavorit spielt so. Bei Portugals 4-2-3-1-System spielen Cristiano Ronaldo über links, Deco in der Mitte und Figo über rechts hinter Stürmer Pauleta. Im defensiven Mittelfeld halten ihnen Costinha und der mitunter durchaus ebenfalls offensive Maniche den Rücken frei.

Tempo aus der Ballzirkulation

Die lateinamerikanischen Mannschaften und jene aus Südeuropa werden ihr Tempo eher aus der Ballzirkulation entwickeln, obwohl man gerne auf die reine Lehre verzichtet, wenn man einen wie Lionel Messi hat. Der Argentinier kann eine Abwehrreihe mit seiner Schnelligkeit und seinen Dribblings allein auseinander nehmen.

Prototypisch für den Fluss der Kombinationen steht jedoch das brasilianische Team, das in guten Momenten einen Gang höher schaltet, indem die in aller Schärfe gespielten Pässe gleich in Serie direkt weitergeleitet werden. Schon beim Confederations Cup im letzten Sommer konnten wir diesen One-Touch-Zauber beobachten, auf den die Brasilianer aber schon im nächsten Moment pfeifen, wenn es denn ein hoher, weiter Ball sein muss oder ein Dribbling.

Doch soll man gerade jene als Maßstab nehmen, die über alle Möglichkeiten verfügen? Der Rest wird Kompromisse machen müssen, und das muss kein Nachteil sein. Auch die Kleinen des Weltfußballs haben die defensiven Arbeitsweisen längst verstanden, und diese plus einer guten Athletik reichen oft schon aus, um nominell überlegenen Teams das Leben ordentlich schwer zu machen. Der Trend mag zur Offensive gehen, aber wer geschickt verteidigt, hat auch bei der WM gute Chancen, ganz weit zu kommen.

Vielleicht wird Serbien-Montenegro zum großen Trendverderber, denn auf dem Weg nach Deutschland hat dieses Team in der Qualifikation die wenigsten Tore hinnehmen müssen - genau eines. Auch die Europameisterschaft in Portugal war schließlich eine der Offensive, bei der ein defensiv ausgerichtetes Team gewann.

Alle Favoriten gingen im von Otto Rehhagel organisierten Defensiv-Dickicht verloren, während die griechische Mannschaft vorne die Chancen des "zweiten Spiels" nutzte, jenes nach Freistößen und Ecken. Das deutsche Team hingegen will es genau andersherum versuchen und ohne Rückpass die Flucht nach vorn antreten. Titel gewinnt man so keine, aber vielleicht die Herzen des Publikums.

© SZ vom 6. Juni 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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