Sturmflaute:Telekolleg für den Unvollendeten

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Es ist ähnlich wie vor vier Jahren: Bisher hat die deutsche Mannschaft nur ein Tor bei der EM erzielt. Und wieder war es kein Stürmertor. Kevin Kuranyi fühlt sich bei der EM als Auszubildender, ist aber die einzige Hoffnung im deutschen Angriff.

Von Philipp Selldorf

Kevin Kuranyi, 22, spielt in Portugal sein erstes großes Fußballturnier, und wenn man ihn reden hört, dann könnte man das Gefühl bekommen, dass er schon ein wenig müde ist von den Anstrengungen des Wettkampfs und dem seelischen Stress, ein achtzig Millionen Menschen zählendes Volk ins Viertelfinale schießen zu müssen.

Doch das täuscht und liegt an seinem Sprechrhythmus, der von karibischer Gemächlichkeit ist. Kevin Kuranyi genießt die Zeit in Portugal, und die beiden Spiele mit der Nationalelf haben ihn offenbar schwer beeindruckt. "Die Fans sind sehr laut", sagt er, "es ist schön, schöner geht's gar nicht. Das macht mich glücklich, und deswegen werde ich alles geben am Mittwoch."

Ein bisschen weniger als alles wäre bereits nicht mehr genug, auch wenn am Mittwoch der deutschen Elf eine tschechische Mannschaft gegenübersteht, die aufgrund diverser Umbesetzungen wenig gemein hat mit der, die am Sonntag die holländische Elftal entzaubert und 3:2 besiegt hat. Kuranyi hat das Match im Mannschaftshotel in Porto während des Abendessens gesehen, er strahlt, wenn man ihn darauf anspricht. "Sehr stark, einfach unglaublich von den offensiven Leuten", sagt er.

Dieses Kompliment wird den deutschen Angreifern bisher aus guten Gründen verweigert. Kuranyi erhält zwar bei weitem die besten Kritiken im Sturm-Quartett (den fünften Mann im Bund, Lukas Podolski, betrachtet Völler noch als Auszubildenden), doch beteiligt er sich solidarisch an der wachsenden Verzweiflung im und über den deutschen Angriff. "Wenn ich ein Tor schießen würde, würde uns das insgesamt befreien", sagt er. Exemplarische Aufmunterung für Brdaric, Bobic und vor allem Klose wird dringend benötigt.

Von allen etwas abschauen

Miroslav Kloses seelische Verklemmungen im Strafraum erlebt Kuranyi mit Schaudern, Mitgefühl - und mit ein wenig Bewunderung: "Bei ihm sieht man im Training, dass er unbedingt will. Er hat so viel Willenskraft. Wenn er einmal trifft, dann wird alles anders." Doch bis es so weit ist, bleibt in Erinnerung, wie Klose am Samstag in Lahms Flanke hineinfliegt, in "eine absolut hundertprozentige Torchance", wie Trainer Skibbe sagte, dynamisch, perfekte Haltung - und wie der Ball circa zehn Meter am Tor vorbeijagt.

Kuranyi hat schon fleißig ferngesehen während des Turniers, es ist eine Art Telekolleg für ihn, wenn er im Quartier in Almancil vor dem Bildschirm sitzt, weil er sich "von allen etwas abschauen" will. Seine Idole: "Morientes mit seiner Kopfballstärke, Koller mit seinem Körper - es ist so schwierig, ihm den Ball abzunehmen -, oder die jungen Spieler wie Rooney, der abgeklärt Tore schießt, und Ronaldo, der eine starke Technik hat."

Van Nistelrooy, dem er im ersten Spiel auf dem Rasen begegnete? Kuranyi lächelt. "Van Nistelrooy kann fast alles. Er hat einen guten Kopfball, hat eine gute Schusstechnik, kann den Ball abschirmen. Er ist einer der besten Stürmer überhaupt."

Irgendwo in dieser Phalanx der herausragenden Angreifer Europas hat auch Kuranyi seinen Platz, was ihm vor einem Jahr noch keiner zugetraut hat, als er im Wechsel mit Benjamin Lauth mal zur A-Mannschaft und mal zu den U-21-Junioren delegiert wurde. Kuranyi ist schnell, beherrscht den Ball, und findet auch in schwierigen Situationen die Übersicht, seine Mitspieler einzusetzen.

Aber er hat keinen starken Schuss und keinen Sinn für das Toreschießen wie die ewigen deutschen Angriffslegenden Uwe Seeler, Gerd Müller, Klaus Fischer und - Rudi Völler. Der Teamchef "versucht auf jeden Fall, mir Tipps zu geben", sagt Kuranyi, "dass man sich viel bewegen soll und dass man die Bälle runterdrücken soll beim Kopfball - es gibt Vieles."

Viel zu viel leider aus Sicht von Rudi Völler, der seine Stürmer zwar entschieden verteidigt gegen öffentliche Kritik, aber unter ihren Unzulänglichkeiten im Strafraum leidet wie ein Vater, dessen Söhne ständig sitzenbleiben. "Ich gebe zu", sagt Völler, "dass wir schon in den Qualifikationsspielen zu wenig Tore aus unseren Chancen gemacht haben."

Torjäger Ballack

Dieser Punkt ist ein Reizthema, Völler begegnet ihm mit dem Prinzip Hoffnung ("Wir glauben dran, auf jeden Fall"), und dieses Verfahren ist inzwischen weit verbreitet. "Ist mir egal", sagt auch Kapitän Oliver Kahn, dann müssten eben andere treffen, "." Über das Stadium des Wehklagens ist Rudi Völler ja auch längst hinaus, er hat ersatzhalber Michael Ballack zum Torjäger ernannt.

"Für unser Spiel ist es wichtig, dass wir Michael Ballack in Situationen bringen, damit er torgefährlich sein kann", meint er, "wenn er vorne auftaucht, dann brennt's halt und davon profitieren auch unsere Stürmer."

Das klingt, als ob er am liebsten mit einer Dampfwalze Platz schaffen würde für den torgefährlichen und tatsächlich auch torgierigsten deutschen Spieler. Oder dass er zu dem Zweck wenigstens, wie im Premierenspiel, auf den Einsatz eines zweiten Stürmers verzichtet. Kuranyi würde das bedauern.

Er sagt, es sei einfacher für ihn, wenn er jemanden neben sich habe, dem er ein langes Anspiel aus dem Mittelfeld oder der Abwehr weitergeben könne, und ihm ist es ziemlich gleich, ob es Klose oder Bobic ist, Hauptsache: "Dann ist immerhin einer hinter dir". Zur Zeit steht - notgedrungen - sogar die ganze Fußballnation hinter Kevin Kuranyi.

© Süddeutsche Zeitung vom 22.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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