Stimmungslage der Nation:Aus der Tiefe der Trauer

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Langsam macht sich die Erkenntnis breit, dass der Fußball hierzulande die schwerste Zeit wohl noch vor sich hat. Die deutschen Fans, die deutsche Mannschaft und der starke Abgang des Rudi Völler: "Wir haben ja keine Besseren."

Von Holger Gertz

Die Metrolinie Girassol, im Fahrplan gelb gekennzeichnet, kommt einem nach zwei Wochen Lissabon fast so vertraut vor wie ein Heimweg, den man jahrelang gefahren ist. Vorm Fußballplatz, dem Estadio Jose de Alvalade, liegt die Station Campo Grande, in einer guten Viertelstunde ist man von da mitten in der Stadt. Einmal hatten die anderen Passagiere Mützen mit Wikingerhörnern auf dem Kopf, waren im Gesicht schwedengelb angemalt und schon ziemlich betrunken nach ihrem 5:0 gegen Bulgarien.

Die ganze Fahrt war eine einzige Vorfreude auf die Endstation, Marques de Pombal, wo dieser große Runde Platz ist mit dem Denkmal drauf, an dem man herumklettern und feiern kann bis zum frühen Morgen. So ruckelte die U-Bahn während dieser EM hin und her, an Bord traurige Menschen und wütende und erleichterte und glückliche, lauter große Gefühle zwischen dieser Station und jener, so ist der Fußball: Er hat ein Ventil, an dem man alles rauslassen kann, ein Spiel lang und den Heimweg über auch noch.

Mittwochnacht fahren Fans in dieser U-Bahn, die das Deutschland-Trikot tragen, das schwarze, hintendrauf gedruckt ihre Namen: Plautze, Ralle, Steini. Richtig deutsche Spitznamen, solche, mit denen man auf dem Fußballplatz seinen Mitspieler ruft. Wie die drei wirklich heißen, ist nicht wichtig. Plautze, Ralle und Steini könnten Klaus, Herbert und Hans sein, oder Olaf, Peter und Michael: Fans, die der Nationalmannschaft folgen, auch in den Untergang.

Steini sagt, man könne ja nicht wirklich böse sein, die Spieler hätten sich angestrengt und alles. Und Ralle sagt: "Es war auch Pech dabei." Die Bahn fährt, die gekachelten Wände der Stationen ziehen vorbei, Cidade Universitária, Entre Campos, irgendwo kullert eine Cola-Dose durch den Gang, ohne Halt zu finden. Man hört das kalt scheppernde Geräusch, während einer Heimfahrt in aller Stille. Ralle sagt: "Wir haben ja keine Besseren."

Hilflos, ratlos, schweigsam

Es sind ungewöhnliche Fans, hilflos, ratlos und sehr schweigsam. Zwischen Depression und Annahme des Schicksals. Es sind deutsche Fans in der Lissaboner U-Bahn, noch fahrend, aber schon angekommen in der Realität. Ralle sagt: "Die Tschechen waren einfach besser."

Zwei Stunden vorher war passiert, was die meisten ihrer Glaubensgenossen daheim wahrscheinlich befürchtet, aber irgendwie doch nicht geglaubt hatten. Raus in der EM-Vorrunde, 1:2 verloren hatte die deutsche Nationalmannschaft gegen die Tschechen, gegen deren B-Mannschaft, die Besten wurden für die nächste Runde geschont. Es war ein Spiel, was eine junge Katze mit einer alten Maus treibt. Eigentlich hat die Katze die Maus schon sicher, die deutsche Maus, aber aus Spaß jagt sie sie noch ein bisschen rum und packt irgendwann zu.

Die Tschechen wechselten in der zweiten Halbzeit zwei ihrer Spieler aus dem A-Team ein, den Mittelfeldmann Poborsky und den Stürmer Baros. Kurz darauf schoss Baros das 2:1, sie hatten ihre Arbeit erledigt, zweckmäßig, effektiv und schön, einfach ihre Arbeit, und eine größere Demütigung für das deutsche Team wäre es nur noch gewesen, wenn der Tschechencoach Karel Brückner die zwei aus dem A-Team nach dem Tor, nach vollbrachter Vollstreckung, wieder ausgewechselt hätte.

Als alles vorbei war, fielen einem zwei Bilder besonders auf. Der deutsche Torwart Oliver Kahn, wie er nach dem Spiel über den Platz geht, um sich von den Schiedsrichtern zu verabschieden. Im WM-Finale vor zwei Jahren trug er sein Haar kurz, eine Titanenfrisur, von entschlossener Klinge getrimmt. Jetzt stand ihm das Haar ungeordnet nach allen Seiten. Die Spannung war weg, auch bei ihm, und als er zu den Schiedsrichtern trottete, mit einem weißen Handtuch über den Schultern, sah er aus wie ein Bademeister nach Dienstschluss.

Das zweite Bild, die deutschen Fans in der Kurve: klatschten ihren Fußballern zaghaft Beifall, ein Applaus wie in Zeitlupe. Wenig Pfiffe, dann ging der Teamchef Rudi Völler - der inzwischen keiner mehr ist - Richtung Tribüne und applaudierte mechanisch zurück, während unten, auf der anderen Seite des Spielfelds, die Tschechen sich mit Wasser vollspritzten.

Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat den Prozess des Trauerns in fünf Phasen unterteilt, sie heißen Leug-nen, Wut, Feilschen und Verhandeln, Depression und schließlich Annahme des Schicksals. Auf die Fans und den Fußball und die Nationalmannschaft bezogen - immer vorausgesetzt, dass es sich hier um einen Trauerfall handelt - bedeutet das: Man leugnet, dass es vorbei ist mit der Nationalmannschaft und verweist auf deren Wiederauferstehungspotential als so genannte Turniermannschaft. Leugnen ist wichtig, damit einen der Schmerz nicht frisst. Dann, die Wut: Warum spielen wir so viel langsamer, so viel langweiliger als alle anderen? Ausgedrückt durch lautes Pfeifen und wütendes Trommeln auf Gegenstände.

Feilschen und Verhandeln: Die Tschechen werden nicht konzentriert sein, sie sind schon in der nächsten Runde, sie haben sich müde gefeiert. Depression schließlich: Hamann hat keine Strategie, Nowotny keine Schnelligkeit, dafür inzwischen fast eine Halbglatze. Der Stürmer Kuranyi trifft nicht, aber auf der Bank sitzt nur der Stürmer Klose von einem Fastabsteiger, der Stürmer Bobic von einem Fastabsteiger, der Stürmer Brdaric von einem Fastabsteiger, der Stürmer Podolski von einem Absteiger.

Depression führt zum vorübergehenden Verlust von Spaß an Aktivitäten, die einem sonst gefallen. Also: die Fans rollen ihre Fahnen ein. Am Ende des Trauerprozesses, nach vielen Kämpfen: die Annahme der Realität. Oder, wie Steini das nach dem Spiel in der U-Bahn sagen wird, Steini mit dem schwarzen Hemd: "Unsere Mannschaft ist nicht gut genug fürs Viertelfinale." Oder, wie der Teamchef es in der Pressekonferenz nach dem Spiel sagt: "Wir sind traurig. Aber es hat nicht gereicht."

Rudi Völler sitzt an einem langen Tisch, auf einem gewaltigen Podium, und hinter ihm stehen die Namen der ganzen Weltkonzerne, die so ein Turnier sponsern. Coca Cola und adidas und McDonald's. Da sieht der Teamchef noch einmal viel kleiner aus, in seinem Sakko, das blaue Hemd geöffnet, und alles was er sagt, klingt wie eine Einleitung zu dem, was er am nächsten Tag im deutschen Mannschaftsquartier an der Algarve verkünden wird. Dass er jetzt aufhört, Teamchef zu sein.

Völler wirkt noch etwas spitznasiger als sonst, vielleicht hat er Gewicht verloren während der EM, es muss ja auch ein ziemlich Stress sein, wenn man selbst Weltmeister war und die Dinger reingemacht hat, wie die Fußballer sagen. Völler war als Spieler der Knipser und Striker und Torjäger, der seinem Team heute fehlt. Als Teamchef ist er mit Deutschland durchs WM-Turnier 2002 gerauscht, bis ins Finale. Mit viel Glück und dank Völler, das war damals die Analyse. Wenn man etwas nicht erklären kann, muss man es manchmal mit Schicksal erklären und einer Person, der dieses Schicksal gewogen ist.

Der Glücksbringer

Rudi Völler war ein Anti-Vogts, ein Maskottchen, aber in dieser Nacht und auch am nächsten Morgen kann man sehen, das von einem Glücksbringer sogar noch etwas bleibt, wenn ihn das Glück verlassen hat. Er sagt: "Den Spielern kann man nicht den Willen abspre-chen." Er sagt: "Wir hatten trotzdem Defizite, die uns schon in der Vorbereitung verfolgt haben." Er spricht durch die Nase, vielleicht ist er erkältet - die Klimaanlage in den Hotelzimmern.Vielleicht hat er geweint. Er verschweigt nicht, dass der Zustand schlimm ist, aber er sagt auch, dass es besser werden kann. Es ist eine schöne Abschiedsrede, fair und konzentriert.

Der englische Übersetzer übersetzt manchmal Dinge, die Rudi Völler gar nicht so gesagt hat. "The future looks bright." Da klingt es fast wie ein Abschiedslied, ein bisschen verklärend, aber das trifft nicht das, was Völler meint.

Am Donnerstag erklärt Rudi Völler erklären, sein Rücktritt sei kein spontaner Entschluss. Er geht, weil seine Zeit vorbei ist, und weil ein Maskottchen ohne Glück am Ende doch nur eine Belastung ist, für das Ganze. Er hat das Schicksal angenommen, wie es ist. Rudi Völler, der Teamchef a. D., ist ein alter Profi. Dass er ein großer Trainer ist, kann keiner sagen.

Was übrig bleibt, von so einem Spiel, nachdem man dermaßen zerpflückt worden ist? Ein paar abgesperrte Gänge in der mixed-zone unterhalb des Stadions, wo die Journalisten mit den Spielern sprechen können. Walkie-Talkies fiepen, das weiße Licht der Neonlampen macht die Gesichter blass. In der mixed-zone herrscht, nach solchen Niederlagen, die geschäftige Atmosphäre der Notaufnahme eines Krankenhauses.

Die Spieler wollen schnell weg, die Reporter wollen schnell noch was hören, alles rennt und rempelt, als gäbe es noch etwas zu retten, wo nichts zu retten ist. Der Torwart Kahn schaut aus Eiswürfelaugen an den Reportern vorbei. Wenn er gewonnen hat, lässt ihn das wirken wie einen, der von weither kommt und größere Weisheiten im Gepäck hat. Wenn er verloren hat, wirkt seine Abgehobenheit wie Pose - dahinter nichts als Ratlosigkeit.

Kahn ist 35, aber das Neonlicht macht ihn locker zehn Jahre älter. Es legt alle Falten frei, und Kahn hat ziemlich viele. Jemand will wissen, wer diese jungen Spieler sind, und Kahn will eine Antwort geben, aber er hat keine. Er schaut zur Decke, meterweise weiße, frischgetünchte Fläche, Kabel, Scheinwerfer, sonst nichts. Seine Antwort gerinnt zur Frage: "Wo sind denn die jungen Spieler - wachsen die etwa auf den Bäumen?"

Deutsche als gute Gastgeber

So geht es hin und her, alle haben Fra-gen, niemand hat Antworten. In der mi-xed-zone mischen sich die Analysen der vielen lauten Reporter von den bunten Blättern mit der Stille des Augenblicks. Später, im Hotel, wird man bei RTL einen traurigen Nachrichtenmann sehen, der sagt, wie schlimm alles ist in Deutschland, das Wetter, die Wirtschaft, die Mannschaft. RTL ist der einzige deutsche Sender, den man hier im Hotel in Lissabon empfangen kann, so kriegt man jeden Abend einen stark eingeschränkten Ausschnitt deutscher Wirklichkeit.

Nach dem Spiel gegen Holland, einem Unentschieden, hatten sie noch über das Thema geredet: "Was Deutschland von seiner Nationalmannschaft lernen kann", und dann kam das Nachtquiz, und eine Moderatorin fragte: Wie nennt man einen Mann, der auf der Bühne in Frauenkleidern auftritt, Transrapid oder Transvestit? Darauf gab es immerhin eine eindeutige Antwort.

Im Fußball ist alles schwieriger. Als nächstes kommt die Weltmeisterschaft 2006, "im eigenen Land", wie die Fußballer sagen, und bis dahin wird sich nichts Großartiges geändert haben. Ein neuer Trainer, ja, aber kann der Bäume pflan-zen, auf denen junge Spieler wachsen? "Wir brauchen einen Zauberer, aber den findest du nur im Zirkus Crone", sagt Franz Beckenbauer.

Jetzt kommt die WM, schon bald ist sie da, und dass sie im eigenen Land stattfindet, hat einen Nachteil: die Deutschen können sich furchtbar blamieren. "Die Welt zu Gast bei Freunden" ist der Slogan, und so wie es aussieht, werden die Deutschen gute Gastgeber sein und alles herschenken, was sie nicht haben: Punkte, Tore, alles. Man hat jetzt immerhin zwei Jahre Zeit, dieses Schicksal, nach Frau Kübler-Ross, anzunehmen. Aber, wenn man es angenommen hat, muss das nicht heißen, dass die ganz große Depression nicht doch noch kommt.

© Süddeutsche Zeitung vom 25.6.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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